9 Essen mit Mira Kell

9.1 Geistige Horizonte und neue Ideen

Mira Kell und Sven Sommer entschieden sich nach kurzer Diskussion für ein chinesisches Restaurant. Gemeinsam schlenderten sie durch die triste graue Kleinstadt. Er erzählte ihr von seinen Erlebnissen des Tages, als er unvermittelt mit einem anderen Körper zusammenprallte.

Oh, entschuldigen Sie, das tut mir aber leid! Ein gepflegt aussehender junger Mann stand vor Sven Sommer. Hoffentlich ist Ihnen nichts passiert! Das ist meine Schuld. Wissen Sie, da war so eine Frau. Er deutete mit ausgestrecktem Arm auf die andere Straßenseite. Sven Sommer blickte automatisch in die angegebene Richtung.

Achtung, Ihre Brieftasche! Mira Kells Stimme.

Etwas fiel zu Boden, der junge Mann rannte mit schnellen Schritten davon. Sven Sommer stand verwirrt und unschlüssig da. Auf dem Bürgersteig entdeckte er seine Brieftasche. Er hob sie auf.

Ein Taschendieb? wunderte er sich.

Richtig. Wie war das noch gleich mit Aufmerksamkeit und Ablenkung?

Danke! Ohne Sie hätte ich ziemlich dumm dagestanden. Zum Glück hat der Dieb vor Schreck die Brieftasche fallengelassen.

Vielleicht auch mit Absicht. Wahrscheinlich wußte er, daß Sie eher die Brieftasche aufheben als ihn verfolgen würden. Mira Kell machte ein kurze Pause. Ich hatte übrigens nicht erwartet, daß Sie in meiner Begleitung nach anderen Frauen Ausschau halten würden.

Sven Sommer senkte den Blick, als ob seine Brieftasche immer noch auf dem Boden läge. Er murmelte irgend etwas von Schlüsselreizen und verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere. Als er den Blick wieder hob, grinste Mira Kell über das ganze Gesicht. Beide lachten. Ohne weitere Zwischenfälle erreichten sie das Restaurant.

Wie in chinesischen Restaurants üblich, war die Bedienung äußerst schnell. Sven Sommer bestellte sich eine süß-saure Ente, Mira Kell ein scharfes Hühnergericht. Sven Sommer seufzte.

Ich frage mich, warum die heutige Besprechung so wenige Ergebnisse geliefert hat. Die Leute schienen andauernd aneinander vorbei zu reden.

Mira Kell nahm eine Serviette und zeichnete darauf eine Linie.

Was ist das? fragte sie herausfordernd.

Ein Strich?

Das ist Ihr geistiger Horizont! Sie lächelte triumphierend und begann, das Papier mit einigen Ellipsen zu versehen (Abbildung 26). In eine Ellipse über dem geistigen Horizont schrieb sie Management.


pict

Abbildung 26: Sven Sommers geistiger Horizont. Er versteht viel von Management und Politik, aber wenig von Usability. Das Paarungsverhalten von Fröschen ist ihm fremd.


Wofür interessieren Sie sich sonst noch?

Politik, das ist wichtig in meiner Position.

Sie beschriftete eine weitere Ellipse über dem Strich mit Politik. Die nächste Ellipse lag zum Teil über dem geistigen Horizont, zum Teil darunter, Usability. Zum Schluß zeichnete Mira Kell eine Ellipse ganz unter dem Strich und schrieb Paarungsverhalten von Fröschen.

Ich nehme an, Sie wissen nichts über das Paarungsverhalten von Fröschen?

Nun ja, sie quaken, um die Weibchen anzulocken.

Genau wie Männer! Sie grinste schelmisch. Nehmen wir einmal an, Sie wüßten nichts über das Paarungsverhalten von Fröschen. Dann läge es unter Ihrem geistigen Horizont.

Sven Sommer verstand. Über die Gebiete, die über seinem geistigen Horizont lagen, wie Management und Politik, wußte er Bescheid. Die anderen waren ihm weitgehend unbekannt.

Worüber unterhalten Sie sich gewöhnlich mit anderen Leuten?

Am liebsten über Management und Politik. Er hielt kurz inne. Ich glaube, ich unterhalte mich am liebsten über Dinge, von denen ich etwas verstehe.

Sehen Sie, das ist bei den meisten Menschen so. Sie können nicht viel über Dinge reden, von denen sie nichts wissen, denn diese Dinge müssen sie erst erlernen. Also vermeiden sie, davon zu sprechen, weil sie sonst dumm und ungebildet erscheinen könnten.

Dann reden die Menschen aneinander vorbei, weil ihre geistigen Horizonte verschieden sind?

Ja, genau so ist es. Sie griff nach einer weiteren Serviette und zeichnete darauf eine Art Landkarte mit drei Ländern: Management, Entwicklung und Marketing (Abbildung 27).


pict

Abbildung 27: Eine Landkarte des Wissens, hier mit den drei Ländern Management, Entwicklung und Marketing. In den Ländern leben verschiedene Ureinwohner mit unterschiedlichen geistigen Horizonten. Dort, wo sich die Kreise überlappen, findet Kommunikation statt.


Das ist die Welt des Wissens, flüsterte sie geheimnisvoll. In diesen Ländern leben seltsame Ureinwohner: Manager, Techniker und Marketingmitarbeiter, alle mit unterschiedlichen geistigen Horizonten. Sie zeichnete drei Kreise in die Länder, um die geistigen Horizonte der Eingeborenen zu veranschaulichen. Die Kreise überschnitten sich an den Landesgrenzen. Jeder Ureinwohner redet gerne über Dinge innerhalb seines geistigen Horizontes. Leider verstehen die Bewohner der anderen Länder davon recht wenig, weil ihre geistigen Horizonte woanders liegen. Also reden sie aneinander vorbei. Nur dort, wo sich die geistigen Horizonte überlappen, besitzen die Ureinwohner gemeinsames Wissen. Dort können sie problemlos kommunizieren.

Aber es ist doch möglich, die geistigen Horizonte zu vergrößern. Die Marketing-Mitarbeiter könnten beispielsweise den Technikern ihr Wissen über Marketing beibringen.

Mon General! Sie schlagen eine Invasion vor? Mira Kell tat entsetzt.

Eine Invasion?

Wenn eine Gruppe von Ureinwohnern den Bewohnern eines anderen Landes ihr Wissen und ihre Werte aufzwingen will, ist das eine Invasion. Eine Belehrung wird oft als Herabwürdigung empfunden.

Sie reden, als wären es tatsächlich verschiedene Kulturen. Eigene Werte? Ist das nicht etwas übertrieben?

Es sind eigene Kulturen! betonte Mira Kell. Wodurch definiert sich eine Kultur? Sind es nicht die eigene Sprache und das eigene Wertesystem? Gehen Sie durch eine größere Firma und hören Sie, wie sich Mitarbeiter verschiedener Abteilungen unterhalten. Sie haben eine eigene Fachsprache mit Unmengen von Fremdwörtern, die für Außenstehende nur schwer verständlich ist. Außerdem verfolgt jede Abteilung andere Ziele. Das muß so sein, weil sie für unterschiedliche Aufgaben zuständig sind. Aber das heißt auch, daß sie firmenrelevante Fragestellungen anders bewerten.

Ein Beispiel?

Stellen Sie verschiedenen Abteilungen die Frage, wie sich der Erfolg eines Produktes steigern läßt. Das Marketing wird mit günstigeren Preisen oder mehr Werbung reagieren wollen, die Entwicklung mit der Verbesserung des Produktes. Alle Antworten sind richtig, aber die Gewichtung ist anders, weil verschiedene Wertesysteme dahinter stehen. Von der Antwort hängt auch ab, welche Abteilung in Zukunft mehr Geld bekommt und ihren Einfluß innerhalb des Unternehmens vergrößert. Wenn ein Entwickler sagt, wir brauchen mehr Marketing, schwächt er dadurch seine eigene Position.

Das ist wahr. Die Ziele der einzelnen Abteilungen sind oft nicht mit den Zielen des Unternehmens identisch. Sven Sommer dachte nach. Also muß der General die Ureinwohner vereinen und ihnen zu einer gemeinsamen Kultur verhelfen, der Firmenkultur.

Ja, das ist eine Möglichkeit. Firmen versuchen seit langem, diese Probleme zu überwinden, aber ich glaube nicht, daß es einen Königsweg gibt. Letztlich liegt es an den Menschen und am Management. Ein guter Manager muß zwischen den Abteilungskulturen vermitteln können und ein Klima der Toleranz schaffen.

In unserer Welt fehlt noch das Land der Usability, bemerkte Sven Sommer.

Ja, was schlagen Sie vor? Sollen wir ein neues Land erschaffen? Mira Kell schaute erwartungsvoll.

Wenn wir ein neues Land erschaffen, müssen wir den anderen Ländern etwas wegnehmen. Die Einwohner werden sich mit allen Mitteln dagegen wehren.

Vive la Revolution! Sie hatte die Stimme gehoben und ballte die Faust. Ihre Augen funkelten. Einige Gäste schauten neugierig herüber.

Sorry, ich spreche nur Denglisch. Beide lachten. Sven Sommer nahm den Faden wieder auf.

Ich glaube, so geht das nicht. Ist es nicht besser, dafür zu sorgen, daß die Ureinwohner Usability mit in ihr Land aufnehmen und gute Benutzbarkeit zu ihrem eigenen Ziel machen?

Sehr gut! Und wie macht man das?

Oh, mit dem Einführen neuer Ideen habe ich Erfahrung. Zuerst müssen die Häuptlinge und Meinungsführer überzeugt werden. In einer Hierarchie fließen die Informationen lieber von oben nach unten als umgekehrt. Wir benötigen Gespräche unter vier Augen, Vorträge und Schulungen. Außerdem müssen wir den Ureinwohnern die Angst nehmen, daß ihre Kompetenzen eingeschränkt werden könnten. Sven Sommer geriet in Fahrt. Er war wieder in seinem Element.

Ja genau. Es gibt ein ausgezeichnetes Buch von Mary Lynn Manns, wie neue Ideen im Unternehmen verbreitet werden können: Fearless Change: Patterns for Introducing New Ideas [23].

Und was denken Sie, ist das Wichtigste dabei?

Daß die Verbreitung neuer Ideen viel Zeit und Mitstreiter benötigt. Historisch gesehen hatten es neue Ideen immer schwer, sei es das Telefon, der Fotokopierer oder der Computer. Der Wert nahezu jeder großen Erfindung wurde in ihrer Zeit nicht erkannt, weil diese Innovationen außerhalb des geistigen Horizontes der Mehrheit lagen.

Aber Usability ist einfach, nichts das schwer zu verstehen wäre. Das kann ich schnell durchsetzen.

Dann besteht die Gefahr, daß Sie außer Lippenbekenntnissen nichts produzieren. Wenn Sie Usability zu einem Faktor im Entwicklungsprozeß machen wollen, müssen Ihre Mitarbeiter ernsthaft hinter dieser Idee stehen. Sie zeichnete ein Schiff auf die Serviette und darauf einige Kringel. Auf einem Schiff befinden sich 10 Ziegen und 16 Schafe. Wie alt ist der Kapitän?

Das ist lächerlich! Diese Aufgabe ist unlösbar. Sven Sommer wußte nicht, worauf sie hinaus wollte.

Grundschüler zählen oft die Anzahl von Schafen und Ziegen zusammen, um das Alter zu ermitteln. Dieses Phänomen ist als Kapitänsaufgabe bekannt, erklärte Mira Kell. Sie schien es nicht komisch zu finden.

Schüler sind ja auch noch dumm. Zum Glück machen wir Erwachsenen so etwas nicht mehr.

Wirklich nicht? Mira Kell hatte wieder ihren herausfordernden Blick. Die Schüler sind nicht dumm. Sie wissen genau, daß diese Aufgabe nicht lösbar ist. Sie geben eine unsinnige Antwort, weil die Erwachsenen eine Antwort von ihnen erwarten. [24]

Jetzt weiß ich, was Sie wollen. Sie glauben, meine Mitarbeiter wären genau so! Er amüsierte sich. Nein, so ist das nicht. Mitarbeiter sind keine Kinder!

Wirklich nicht? Mira Kell war es wieder einmal gelungen, Sven Sommer in eine von ihren Fallen zu locken. In den Vereinigten Staaten wurden einmal neue Schulbücher Lehrern zur Beurteilung vorgelegt. Einer der Verlage war nicht rechtzeitig fertig geworden und hatte deshalb Bücher mit leeren Seiten ausgeliefert. Trotzdem erhielten diese Bücher Beurteilungen. [25]

Sie meinenSven Sommer wußte nicht, was er darauf antworten sollte.

Ja, auch erwachsene Mitarbeiter liefern Phantasieergebnisse, wenn es das Management von ihnen erwartet. Die meisten Projekte sind so komplex, das Phantasien nur schwer enttarnt werden können.

9.2 Produktentwicklung

Das Essen wurde aufgetischt. Sven Sommer verbrannte sich die Finger an der heißen Reisschale. Einige Momente saß er sprachlos da. Dann führte er das Gespräch fort.

Angenommen, es gelingt mir, alle Mitarbeiter ernsthaft von Usability zu überzeugen. Das allein kann nicht ausreichend sein. Er erzählte von seinem Erlebnis mit dem blindengerechten Supermarkt. Ich bin davon überzeugt, daß alle Beteiligten ernsthaft bemüht waren, einen barrierefreien Supermarkt zu schaffen. Trotzdem war das Ergebnis ein Desaster. Und daran waren Experten beteiligt!

Mira Kell dachte nach. Dafür kann es viele Gründe geben. Zum einen gehen auch viele Usability-Experten wie Invasoren vor, zum anderen ist es sehr schwer, gute Usability in der Praxis zu erreichen.

Sven Sommer zweifelte: Aber die Grundlagen der Usability sind doch so einfach?

Das sind die Newtonschen Gesetze der Mechanik auch, aber versuchen Sie einmal, damit ein komplexes Problem zu lösen. Die Anwendung einfacher Regeln auf ein komplexes Problem kann sehr schwierig sein.

Das ist mir schon klar, aber die Probleme im Supermarkt waren offensichtlich. Nicht jeder Trottel kann alles im Voraus planen, aber jeder Trottel kann die Fehler erkennen; sogar ich, obwohl ich nie etwas mit Supermärkten zu tun hatte. Seine Mine verfinsterte sich säuerlich. Er war sich nicht sicher, ob er gerade etwas Kluges gesagt hatte.

Mira Kell grinste. Sie lieh sich eine Serviette vom Nebentisch und begann zu zeichnen (Abbildung 28). Das Bild zeigte drei Balken, die verschiedene Zeitabschnitte symbolisierten. In den Balken standen die Wörter Analyse, Entwurf und Bau.


pict

Abbildung 28: Typisches Balkendiagramm für die Terminplanung im Projektmanagement. Einzelne Projektphasen werden in Form von Balken entlang der Zeitachse dargestellt.


Ein Gantt-Diagramm für die Terminplanung, erkannte Sven Sommer. Das ist Standard im modernen Projektmanagement. [27]

Das ist der Tod der Usability, sagte Mira Kell salbungsvoll und senkte ihren Kopf wie in tiefer Trauer.

Ah, jetzt erkenne ich es! Sie haben einen Fehler eingebaut. Er triumphierte. Es sind bereits feste Zeiten eingeplant, obwohl die Analyse noch gar nicht abgeschlossen ist. Aber erst nach der Analyse können die Zeiten für Entwurf und Bau festgelegt werden. Das ist eine Kapitänsaufgabe!

Ich wollte eigentlich auf die soziale Komponente hinweisen, gestand sie.

Die soziale Komponente?

Ja. Usability hat viel mit dem Beseitigen erkannter Fehler zu tun. Moderne Projekte sind aber so komplex, daß es unmöglich ist, alles vorher richtig zu planen. Sie müssen damit rechnen, daß viele Probleme erst in einer späten Projektphase erkannt werden. Das ist aber im Zeitplan nicht vorgesehen. Wenn auf diese Probleme eingegangen wird, verzögert es das Projekt. Der Zeit- und Kostenplan kann nicht eingehalten werden.

Oh, das will kein Projektleiter. Ein erfolgreiches Projekt verläuft nach Plan, bestätigte Sven Sommer. Das ist bei uns genauso.

Ist ein erfolgreiches Projekt nicht das, was der Firma Geld bringt? Mira Kell sah ihm in die Augen. Ein Projektleiter kann es sich nicht leisten, das Projekt zu verzögern. Also streicht er eventuelle Verbesserungen, um sein Gesicht nicht zu verlieren und deklariert das Projekt als Erfolg. Schließlich will er seinen Job behalten. Wie sich das Produkt später auf dem Markt entwickelt, liegt nicht in seiner Verantwortung.

Ja aber, an einem Projekt sind doch viele Menschen beteiligt, am Supermarkt sogar Behindertenverbände. Die können doch Probleme nicht einfach als Erfolg feiern.

Doch, das müssen sie sogar. Stellen Sie sich einmal vor, was passieren würde, wenn eine Firma, die versucht, auf Behindertenbedürfnisse einzugehen, anschließend dafür kritisiert wird. Sie würde es nie wieder tun. Menschen, die direkt am Projekt beteiligt waren, haben hingegen irgendwann dem Projektplan zugestimmt. Sie befinden sich in der gleichen Situation wie der Projektleiter. Ein Eingestehen von Fehlern wäre ein Versagen.

Aber es gibt doch externe Kritiker?

Die sind schnell als sozial inkompetent abgestempelt. Mira Kell machte eine wegwischende Bewegung mit der Hand.

Sven Sommer saß still da und dachte an seine eigene Firma.

Es muß also Zeit für Verbesserungen eingeplant werden. Er wurde wieder still. Aber das geht nicht. Man muß Projekte so zügig wie möglich abschließen, um schnell am Markt zu sein. Der Markt diktiert das Tempo.

Wieder einmal widersprach Mira Kell: Bei Toyota endet die Planung ein Jahr vor Produktionsbeginn. Die Japaner nehmen sich diese Zeit, um die Produktion zu optimieren. Ich glaube, das ist ein erfolgversprechender Ansatz. [28]

9.3 Usability-Tests

Aber dann muß ich herausfinden, ob ein Produkt eine gute oder eine schlechte Usability besitzt. Wie tue ich das? fragte Sven Sommer.

Mira Kell deutete auf ihren Kopf. Zu erst einmal sollten Sie Ihren Verstand benutzen. Halten Sie sich die Grundlagen guter Benutzbarkeit stets im Gedächtnis: Einfachheit, Effizient, Fehlertoleranz, Vorhersehbarkeit und Transparenz. Sehen Sie sich Produkte aus dem Alltag an und denken Sie darüber nach, inwieweit diese Kriterien erfüllt sind und was verbessert werden könnte. Damit haben Sie auch schon Ihren ersten Usability-Test durchgeführt.

Usability-Test? Sven Sommer war erstaunt. Warum sollte das Betrachten eines Produktes ein Test sein?

Mira Kell erklärte: Ja, einen heuristischen Usability-Test. Das bedeutet, Sie haben eine Beurteilung anhand einiger grundlegender Kriterien vorgenommen, sogenannter Heuristiken. In diesem Fall den Grundlagen für gute Usability.

Wenn das so einfach wäre, könnte jeder Ingenieur seine Produkte selbst beurteilen und wir würden in einer Welt guter Benutzbarkeit leben. Ein guter Einwand, fand Sven Sommer.

Sie haben recht. Erinnern Sie sich noch, daß ich Ihnen erzählt habe, daß Menschen ihre eigenen Fehler nicht sehen? Oder was mit Problemen innerhalb eines Teams geschieht? Es ist besser, wenn ein Usability-Test von anderen Menschen durchgeführt wird als den Konstrukteuren.

Was für Menschen?

Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Zum einen kann ein Usability-Experte ein Produkt beurteilen, aber ich empfehle grundsätzlich auch immer einen Test mit Anwendern.

Und wie läuft so ein Test ab?

Im Prinzip ganz einfach. Einige Testpersonen bearbeiten typische Aufgaben, die mit dem Produkt durchgeführt werden sollen. Wichtig ist, daß sie dabei keine Hilfestellung erhalten, höchstens wenn sie sonst überhaupt nicht weiterkommen. Am einfachsten ist es, wenn die Anwender während des Tests laut sagen, was sie denken. Der Experimentator protokolliert, an welchen Stellen Probleme auftreten.

Das klingt sehr einfach. Benötigt man viele Testpersonen?

Nein, schon mit fünf Testpersonen werden circa 80% aller Schwachstellen gefunden [26]. (Abbildung 29)


pict

Abbildung 29: Gefundene Probleme bei einem Usability-Test in Abhängigkeit von der Anzahl der Tester. Bereits mit fünf Testpersonen werden 80% aller Fehler gefunden [26]. Allerdings bezieht sich ein Test immer auf eine sehr spezifische Situation.


So ein Test ließe sich schnell und kostengünstig durchführen. Sven Sommer war begeistert. Und woher nehme ich meine Versuchspersonen?

Am besten aus Ihrem Kundenstamm. Das verbessert auch gleichzeitig die Kundenbeziehung. Kunden mögen es, wenn sie ernst genommen werden. Je nach Produkt kann erhebliches Vorwissen notwendig sein, beispielsweise bei einem CAD-Programm. Das vergrößert aber auch die Gefahr, daß neue Konzepte nicht angenommen werden, weil die Versuchspersonen anderes gewohnt sind.

Also ist es doch nicht so einfach, erkannte er. Wenn ich in einem Test nur Ingenieure als Versuchspersonen nehme, die vorher mit einem bestimmten Programm gearbeitet haben, dann kennen diese Leute das Programm und dessen Bedienkonzepte. Sie kommen also mit ähnlichen Bedienkonzepten besser zurecht, als Menschen, die über andere Erfahrungen verfügen.

Genau so ist es, lobte Mira Kell. Ein Usability-Test ist immer nur so etwas wie ein kleiner Ausschnitt aus der Wirklichkeit, ein Modell unter Laborbedingungen. Sie testen immer nur dieses eine Modell unter ganz bestimmten Bedingungen. Alternativen bleiben Ihnen verborgen.

Sie zeichnete einen Winkel auf ein Blatt Papier, dahinter einen Pfeil, den sie mit Usability-Test beschriftete. Hinter dem Usability-Test zeichnete sie einen abgerundeten Winkel (Abbildung 30).


pict

Abbildung 30: Ein Usability-Test hilft, aus einem kantigen Produkt ein rundes zu machen. Ein fehlerhaftes Grunddesign beseitigt er jedoch nicht.


Angenommen, Sie wollen ein Produkt ohne Ecken und beginnen mit einem schlechten Design. Sie zeigte auf den Winkel. Ein Usability-Test entlarvt vielleicht die Ecken. Daraufhin schleifen Sie die Ecken rund. Sie deutete auf den abgerundeten Winkel. Das ideale Produkt hätte jedoch so ausgesehen. Sie zeichnete einen Kreis.

Sven Sommer war nicht beunruhigt. Dann führe ich einfach mehrere Tests unter verschiedenen Bedingungen mit verschiedenen Designs durch.

Sie unterschätzen die Komplexität des scheinbar Einfachen. Sie wurde ernst und begann, etwas zu notieren. Angenommen, wir wollen ein einfaches Webdesign gründlich austesten. Unsere Anwender benutzen drei verschiedene Betriebssysteme, Windows, Linux und Mac. Auf jedem Betriebssystem testen wir die zwei gängigsten Browser, jeweils in der aktuellen und in einer älteren Version. Natürlich müssen wir verschiedene Parameter berücksichtigen: Java, JavaScript, Cookies, Flash-Plug-In. Dazu die Bildschirmauflösung und die Darstellungsgröße in Pixeln. Wir testen davon nur zwei gängige. Dann haben wir noch zwei Anwendergruppen, eine junge und eine alte. Jeden Test führen wir nur mit fünf Anwendern durch. Ihre Stimme wurde zu einem Murmeln. Zwei hoch Neun gleich 512, mal drei für die Betriebssysteme, jeweils fünf Anwender, das macht 7680 Einzeltests. Ihre Stimme wurde wieder lauter. Wenn wir für jeden Test zwei Stunden ansetzen, benötigen wir 15360 Stunden. Das entspricht 1920 Manntagen, also etwa 1.920.000 Euro.

Sie schaute ihn fröhlich an: Wie viele Designs wollten Sie testen? Bisher haben wir nur eins.

Aber das ist doch Blödsinn! rief Sven Sommer. Einige andere Gäste warfen mißbilligende Blicke herüber. Man muß doch bestimmt nicht alle Kombinationen einzeln austesten? Es reicht doch, nur die typischen Fälle auszutesten?

Das ist das, was in der Praxis getan wird, aber man sollte sich stets bewußt sein, daß die typischen Fälle nur einen Teil der Probleme abdecken. Der Rest landet beim Anwender.

Sven Sommer war einige Sekunden still, bevor er weitersprach. Wenn Usability-Tests nur einen Teil der Probleme finden, muß ich von Anfang an Usability-Fehler vermeiden. Das geht nur mit gut ausgebildeten Mitarbeitern oder mit der Hilfe eines Experten. Seine Mine hellte sich wieder auf. Ich sage immer, nur der Dumme lernt aus seinen Fehlern, der Kluge aus den Fehlern anderer. Es sind bestimmt schon viele Usability-Tests durchgeführt worden. Da müssen sich typische Probleme herauskristallisiert haben. Die sollten sich schnell finden lassen.

Sie haben recht. Es gibt typische Fehler. Deshalb empfehle ich immer, vor einem Test mit Anwendern einen Usability-Experten hinzuzuziehen. Es ist sinnlos, bekannte Schwachstellen bei jedem Test neu zu entdecken.

9.4 Usability in der Entwicklung

Sven Sommer kaute an seiner Ente.

Wie fange ich an, wenn ich ein neues Produkt entwickeln will? Ich weiß jetzt, wie ich Fehler entdecke, aber es wird teuer, ein Design nachträglich zu korrigieren. Deshalb muß ich richtig anfangen.

Zuerst müssen Sie wissen, was der Kunde benötigt.

Das ist einfach. Dafür habe ich das Marketing.

Nein, so einfach ist das nicht. Mira Kell lächelte. Sie kennen doch sicher das Spiel „Stille Post“?

Sie meinen, daß eine Nachricht umso mehr verfälscht wird, je weiter die Wege sind? Sven Sommer machte eine kurze Pause. Das bedeutet, ich muß die Wege kurz halten, also die Produktentwickler direkt zum Anwender schicken. Dann machen die das, was der Kunde will.

Auch hiermit gibt es ein Problem. Kunden sind keine Designer. Wenn Sie genau das machen, was der Kunde will, bekommen Sie im allgemeinen keine gute Lösung. Statt dessen müssen Sie herausfinden, was dem Kunden nützt. Ich empfehle deshalb, einen Usability-Experten und einen Entwickler zum Kunden zu schicken und direkt mit dem Anwender zu sprechen. Außerdem sollten die Leute die Arbeitsumgebung beim Kunden genau inspizieren. Sie wissen schon: Arbeitsabläufe, Streßbelastung, Temperatur,

Spricht irgend etwas dagegen, den Usability-Experten allein zum Kunden zu schicken? Viele Entwickler mögen den Kundenkontakt nicht.

Sie lehnte sich zu ihm herüber und flüsterte Stille Post.. Er verstand irgend etwas mit Rost, wußte aber sofort, was gemeint war. Mira Kell fuhr fort:

Ein gutes Design erfordert großes Fachwissen. Dieses Fachwissen liegt beim Kunden und beim Entwickler, aber selten beim Usability-Experten. Deshalb müssen Entwickler und Usability-Experten eng zusammenarbeiten und ihr Wissen gegenseitig ergänzen.

Das leuchtet ein. Entwickler und Usability-Experten entwerfen gemeinsam ein Konzept.

Ich empfehle mehrere.

Mehrere? Warum? Ein gutes genügt doch!

Man muß viele Frösche küssen, um einen Prinzen zu finden.

Sven Sommer schaute verdutzt drein. Mira Kell erklärte:

Es ist eine Illusion, anzunehmen, daß das erstbeste Konzept auch das beste wäre. Gute Lösungen entstehen, indem man viele Ideen produziert und die schlechten verwirft. [29]

Wird das nicht zu teuer? Er sah ihr in die Augen. Sie formte eine Art Kußmund, ihre Augen funkelten. Konkurrenz hörte er.

Bei Sven Sommer fiel der Groschen. Aber natürlich! Was bin ich heute für ein Hammel. Ich muß ja nicht bei Null anfangen. Es gibt bereits die Konzepte der Konkurrenz und meine eigenen älteren Modelle. Daraus kann ich viel lernen. Ich nehme mir das beste von allem.

Jeder Unternehmensberater weiß, daß er nur die Mitarbeiter eines Unternehmens befragen muß, um sinnvolle Vorschläge zu erhalten, bemerkte Mira Kell trocken.

Sven Sommer ging nicht näher auf diese Bemerkung ein. Wenn ich bereits mehrere Entwürfe habe, was muß ich sonst noch beachten?

Standards.

Standards? Das klingt langweilig.

Ist es auch, aber Standards sind wichtig. Wenn sich in einem Segment gewisse Bedienungsstandards etabliert haben, tun Sie gut daran, diese zu beachten.

Selbst dann, wenn ich ein besseres Konzept habe? Das klang unlogisch für Sven Sommer.

Im allgemeinen selbst dann. Ihre Konzepte müßten schon sehr viel besser sein als der Standard, um am Markt akzeptiert zu werden. Es hörte sich an wie eine Predigt, die sie schon tausend Mal gehalten hatte.

Wenn ich nun verschiedene Konzepte habe, wie finde ich heraus, welches das beste ist? Ich meine, es existiert noch kein Modell, an dem ich testen könnte, auch wenn ich meine fünf Anwender habe.

In diesem Fall sind fünf Anwender nicht genug.

Vorhin haben Sie gesagt, daß ich mit fünf Testern fast alle Fehler finde, erregte sich Sven Sommer.

Das ist kein Widerspruch. Sie finden zwar mit nur fünf Anwendern 80% aller Fehler, aber Sie wissen nicht, bei wie vielen Anwendern das Problem in der Realität auftritt. Sind nur 10% davon betroffen oder 90%? Wenn Sie zwei Konzepte miteinander vergleichen wollen, nehmen Sie lieber 20 Anwender oder mehr. So sind leider die Gesetze der Statistik. Sie zuckte mit den Schultern.

Das verstehe ich nicht, gestand Sven Sommer. Aber ich will es einmal glauben. Und wie kann ich ein Konzept testen?

Sie können mit Anwendern über Ihr Konzept diskutieren. Sie können einen Prototypen bauen und damit einen Test simulieren. Das funktioniert ganz gut. Bei Programmoberflächen haben sich Papierprototypen bewährt.

Papier? Kann man so etwas heutzutage nicht schneller am Rechner machen? Ich habe da diesen Bärtigen, der kann das in Nullkommanichts! Leichter Stolz mischte sich in seine Stimme.

In diesem Fall konzentrieren sich die Anwender zu sehr auf das Aussehen. Außerdem wird man versuchen, aus dem Prototypen ein reales Produkt zu machen. Nichts hält länger als ein Provisorium. Deshalb ist Papier besser.

Sven Sommer schwieg nachdenklich. Mira Kell fuhr fort:

Denken Sie immer daran, daß gute Usability im Laufe der Zeit durch viele kleine Verbesserungen entsteht. Die grandiosesten Konzepte zerbrechen oft an der profanen Realität.

Sven Sommer schwieg immer noch. Er versuchte, all die neuen Informationen zu verarbeiten.

Mein Huhn ist kalt, sagte Mira Kell mit leiser Stimme. Sie schaute traurig auf ihren Teller.

Das ist die profane Realität, erwiderte Sven Sommer.

Sie schauten sich an und lachten, mußten aber später der Bedienung mehrfach versichern, das Essen sei gut gewesen. Am Ende erhielten sie zwei Glückskekse. Mira Kell steckte ihren ein.

Wollen Sie Ihren nicht?

Ich werde ihn später öffnen.

Jetzt steckte Sven Sommer seinen Keks ebenfalls ein. Gemeinsam verließen sie das Restaurant. Feiner Nieselregen empfing sie.

Sie müssen dort entlang. Mira Kell zeigte die Straße hinunter. Mein Weg liegt in der anderen Richtung.

Auf Wiedersehen!

Auf Wiedersehen! Es war ein schöner Abend.

Sie entfernte sich langsam. Sven Sommer sah ihr noch eine zeitlang nach, bis ihr Umriß mit der Dunkelheit verschmolz. Der Abend war nicht ganz so verlaufen, wie er sich das vorgestellt hatte. Natürlich wußte er jetzt viel über Usability, aber …Ihm schwirrte der Kopf. Sollte er sie morgen anrufen? In der Entwicklung würde er sie in jedem Fall benötigen. Er setzte sich leise in Bewegung. Nach einigen Metern kramte er den Glückskeks hervor. Er brach ihn auf, entrollte das darin enthaltene Papier und las: Der Weg zum Erfolg hat keine Abkürzung.