8 Hotel Kognito

Das Hotel Kognito war ein grauer unscheinbarer Bau, eingezwängt zwischen andere graue unscheinbare Häuser, mitten in der Innenstadt. Es besaß mindestens zwei Vorteile: die zentrale Lage und eine eigene Tiefgarage.

Sven Sommer fuhr mit seinem Wagen in die Tiefgarage. Im Gegensatz zu der von heute morgen waren hier die Ausgänge deutlich markiert, aufgemalte Fußabdrücke führten zum Ausgang. Er folgte ihnen wie ein alter indianischer Fährtensucher und stand schließlich vor einem Fahrstuhl.

Als er den Fahrstuhl betrat, erlebte er eine Überraschung. Der Fahrstuhl war hell und geräumig, eine Innenseite mit einer Fototapete beklebt, die eine weite Landschaft zeigte. Vielleicht sollte so Gästen mit Platzangst die Beklemmung genommen werden.


pict

Abbildung 25: Etagenanzeige des Fahrstuhls im Hotel Kognito (links). Die wichtigsten Etagen sind durch leicht erkennbare Piktogramme gekennzeichnet. Die Gästeetagen besitzen eine Farbkennung, die sich auch auf den Gästeschlüsseln befindet. Der rechte Teil des Bildes zeigt eine andere Fahrstuhlanzeige zum Vergleich. Insbesondere das Flurkonzept ist verwirrend, weil die Flurzählung mit dem ersten Kellergeschoß beginnt.


Die Bedienelemente präsentierten sich übersichtlich (Abbildung 25, links). Die Rezeption und die Tiefgarage waren durch leicht erkennbare Piktogramme gekennzeichnet, die Anzeigen für die oberen Stockwerke in verschiedenen Farben gehalten. Was mochte das bedeuten?

Die Erinnerung an einen anderen Fahrstuhl drängte sich spontan in Sven Sommers Bewußtsein (Abbildung 25, rechts). Der Fahrstuhl hatte ihn damals verwirrt, weil die Etagen nach Fluren durchnummeriert waren. Das unterste Kellergeschoß entsprach Flur Nummer 1, das Geschoß darüber Flur Nummer 2. Man wußte nie genau, welcher Flur eigentlich dem Erdgeschoß entsprach. Zwar waren alle Etagen säuberlich beschriftet, aber das mußte man sich erst einmal durchlesen, nichts für ausländische Gäste und Analphabeten.

Der Fahrstuhl beförderte Sven Sommer in eine lichtdurchflutete Empfangshalle, die Rezeption lag direkt im Blickfeld. Er meldete sich an und bekam seinen Zimmerschlüssel. Der Schlüsselanhänger war blau. Sven Sommer erkannte, was es mit der Etagenanzeige im Fahrstuhl auf sich hatte. Jede Farbe stand für eine Etage. Er ging zurück zum Fahrstuhl. Als er einstieg, gesellte sich ein alter Mann zu ihm.

Ein schönes Hotel! Ich übernachte immer hier, wenn ich in der Stadt bin. Sehen Sie! Er deutete auf die Etagenanzeige. Ich kann nicht mehr so gut sehen und habe Probleme mit den Zahlen, aber die Farben sind prima. Früher gab es die Farbcodierung auch bei der S-Bahn. Jede Linie hatte ihre eigene Farbe. Das war gut. Er seufzte. Aber heutzutage gibt es das nicht mehr. Diese jungen Ingenieure denken nicht mehr an uns Menschen. Die können sich gar nicht vorstellen, alt zu werden.

Der Fahrstuhl hielt bei blau, die Tür öffnete sich. Sven Sommer betrat die Etage. Dezent, aber deutlich sichtbar bestätigten einige Farbmarkierungen, daß er richtig war. Aus einer Ecke ertönte dumpfes Brummen. Die Neugier trieb ihn voran. Ein Schuhputzautomat mit rotierenden Bürsten erwartete ihn. Auf dem Gerät klebte ein großes Blatt Papier, auf das jemand geschrieben hatte: Automat bitte Abschalten! Sven Sommer schaltete den Automaten ab.

Merkwürdig, dachte er. Die Menschen verhalten sich nie so, wie die Konstrukteure es erwarten.

Konnte der Automat verbessert werden? Warum schaltete er sich nicht von alleine ab? Sven Sommer überlegte. Ja, es wäre eine Lösung, wenn der Automat von alleine abschalten würde, aber woher sollte der Anwender das wissen? Er stellte sich Scharen von Benutzern vor, die verzweifelt den Aus-Knopf suchten. Hier fehlte eindeutig die Transparenz. Ein großes Schild könnte helfen: Automat schaltet selbsttätig ab! Aber hatte das Bitte-Abschalten-Schild geholfen? Nein, das war nicht fehlersicher genug. Das Gerät mußte automatisch Ein- und Abschalten. Das war die Lösung! Eine deutlich sichtbare Kontaktmatte vor dem Gerät. Sobald ein Anwender darauf tritt, schaltet sich das Gerät ein, wenn er die Matte verläßt, wieder aus. So konnte es gehen. Sven Sommer war stolz auf sich.

Beinahe wäre er vor eine Glastür gelaufen, die ihm den Weg versperrte. Die Tür sah sehr neu aus, wahrscheinlich war sie nachträglich eingebaut worden. Aus Gründen der Eleganz hatten die Designer auf volle Transparenz gesetzt, unsichtbar für Menschen, die in ihrer Aufmerksamkeit gerade abgelenkt waren. Sven Sommer nahm an, daß die Tür von anderen Leuten geplant worden war als der Fahrstuhl.

Sein Zimmer war von mittlerer Größe und machte einen gemütlichen Eindruck. Draußen dämmerte es bereits und die Jalousien waren heruntergelassen. Sven Sommer wollte noch einen Blick aus dem Fenster werfen. Er ging zur Jalousie und zog sie an einer Schnur nach oben. Hinter dem Fenster lag ein kleiner Park. Als er der Schnur etwas Spiel ließ, ging die Jalousie wieder nach unten. Er zog mehrfach an der Schnur und ließ wieder nach, genau so, wie er es bei anderen Jalousien gelernt hatte. Kein Erfolg, die Jalousie rastete nicht ein. Er suchte nach einem Haken, an dem er die Schnur fixieren konnte, aber auch diese Suche blieb vergeblich. Sollte er die Rezeption anrufen? Hallo, hier ist Sommer, ich komme mit der Jalousie nicht zurecht. Nein, das wäre zu peinlich!

Es klopfte an der Tür. Sven Sommer ließ die Jalousie wieder runter und öffnete. Vor ihm stand eine junge Frau mit einem kleinen weißen Käppi auf dem Kopf.

Einen Kaffee, Herr Sommer?

Danke, gerne. Das ist sehr aufmerksam.

Oh, es ist ja ganz dunkel bei Ihnen. Haben Sie den Lichtschalter nicht gefunden?

Ehe er reagieren konnte, war die Frau mit dem Käppi an ihm vorbei und betätigte mehrere Schalter. Das Licht ging an. Sie deutete auf die Schalter.

Hier, das ist der Hauptschalter. Den müssen Sie zuerst betätigen, sonst funktionieren die anderen nicht. Viele Gäste wissen das nicht.

Eigentlich wollte ich gerade aus dem Fenster schauen, hob er an.

Ach so, die Jalousie!

Schnurstracks eilte die Frau mit dem Käppi zum Fenster und zog die Jalousie hoch. Sie blieb oben. Sven Sommer stand staunend da.

Damit kommt keiner zurecht, der zum ersten Mal hier ist, erklärte die Frau fachmännisch. Die Jalousie funktioniert nämlich anders als die üblichen. Sie müssen die Schnur zur Seite ziehen, um die Jalousie zu fixieren. Sehen Sie? Sie zog seitlich an der Schnur.

Sven Sommer war entgeistert: Aber das ist doch schlimm, wenn jeder neue Gast Probleme mit der Jalousie hat. Ein Gast könnte denken, die Jalousie sei defekt und das Hotel schlecht geführt. Haben Sie das schon dem Geschäftsführer gesagt?

Dafür bin ich nicht zuständig, Herr Sommer. Ich bringe nur den Kaffee auf die Zimmer.

Er belehrte sie: In einem gut geführten Unternehmen ist prinzipiell jeder für Probleme verantwortlich. Nur so können alle Schwachstellen beseitigt werden. Ständige Verbesserungen führen zur Perfektion.

Sie wich zurück. Nörgeln ist hier nicht gerne gesehen. Ich könnte meinen Job verlieren.

Aber es ist doch kein Nörgeln, wenn Sie auf ein Problem aufmerksam machen.

Sie verstehen das nicht, Herr Sommer. Auf mich würde ohnehin niemand hören. Ich bin doch nur die Kaffeetante! Sie floh aus dem Zimmer und schloß hastig die Tür.

Sven Sommer öffnete nachdenklich das Fenster und lehnte sich hinaus. Ein frischer Wind durchstreifte den kleinen Park. Wie war es in seinem Unternehmen? Machten seine Mitarbeiter auf Probleme aufmerksam? Sagten sie ihm die Wahrheit oder wurden Mißstände vertuscht und geschönt? Wie reagierte er, wenn ein Mitarbeiter mit einer schlechten Nachricht kam? Lobte er die guten Nachrichten und verdammte er die schlechten? Hatte er seine Mitarbeiter zu einer Bande von Jasagern erzogen? Wie viele „Frauen mit Käppi“ mochte es in seinem Unternehmen geben? [21] [22]

Das Fenster schlug ihm in den Rücken. Aus ihm unbekannten Gründen schafften es die Erbauer nie, ein Fenster so zu konstruieren, daß es im offenen Zustand stehen blieb. Sven Sommer seufzte und legte sich auf das breite Bett. Dort blieb er in Gedanken versunken liegen bis das Telefon klingelte.

Herr Sommer, hier ist die Rezeption. Eine Frau Mira Kell wartet hier auf sie.

Er eilte die Treppe hinab. Schöne Frauen sollte man nicht warten lassen. Unvermittelt trat er in’s Leere und stolperte unbeholfen gegen die Wand. Was war das? So ungeschickt war er doch sonst nicht? Er drehte sich um und betrachtete die Treppe. Die letzte Stufe hatte eine andere Farbe als der Rest. Deshalb hatte er geglaubt, die Treppe sei bereits zu Ende. Wahrscheinlich war der Teppich auf der letzten Stufe irgendwann einmal abgewetzt gewesen, und da hatte man ihn durch den Etagenteppich ersetzt.

Lebensgefährlich, dachte Sven Sommer.

Mira Kell wartete in der Lounge auf ihn. Ihre Kleidung wirkte schlicht und elegant. Sven Sommer spürte, daß sein Herz schneller schlug. Sie lächelte ihn an.