7 Supermarkt

Sven Sommer begleitete Herrn Sanders in dessen Büro und suchte im Internet nach dem Supermarkt, von dem er in der Zeitung gelesen hatte. Die Webseite war schnell entdeckt. Filialensuche. Bitte geben Sie Ihre Postleitzahl ein. Was sollte denn das? Woher sollte er die Postleitzahl kennen? Er stieß einen Fluch aus.

Was ist denn los? fragte Herr Sanders.

Ich suche diesen Supermarkt und brauche die Postleitzahl.

Herr Sanders trat näher an den Bildschirm. Ach der, das ist ganz in der Nähe. Nur ein paar hundert Meter dort hinten. Er deutete aus dem Fenster. Da können Sie auch zu Fuß hingehen.

Sven Sommer verabschiedete sich und machte sich auf den Weg Richtung Supermarkt. Ein kleiner Spaziergang würde ihm guttun. Nach kurzer Zeit stand er vor einer roten Ampel, an der sich sich ein Relief von klarem ästhetischen Reiz befand (Abbildung 23). Das Relief zeigte drei lange parallele Rechtecke. Dazwischen befanden sich kleinere Rechtecke. Sven Sommer bewunderte es gebührend. Worum mochte es sich handeln?


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Abbildung 23: Sven Sommer entdeckt an einer Ampel dieses Relief, eine Tasthilfe für Blinde. Das Bild symbolisiert eine Straße mit zwei Fahrstreifen und einer Fußgängerinsel in der Mitte.


Die Ampel sprang auf grün, ein Ton veränderte sich. Eine Blindenampel! Erst jetzt erkannte Sven Sommer die Bedeutung des geheimnisvollen Symbols. Es war eine Tasthilfe für Blinde. Das obere und das untere Rechteck standen für die Bürgersteige. Dazwischen befanden sich zwei Fahrstreifen und eine Fußgängerinsel.

Auf der anderen Straßenseite entdeckte er eine breite hervorgehobene weiße Linie auf dem Bürgersteig. Gut tastbar, das muß eine Leitlinie für Blinde sein, wie in der Zeitung beschrieben, erkannte er und lief die Linie entlang, wobei er manchmal für einige Meter die Augen schloß. Plötzlich endete die Linie. Sven Sommer sah auf, vor ihm lag der Supermarkt, die Linie war verschwunden. Er schaute genauer hin. Nach einigen Metern fing die Linie wieder an. Vielleicht waren hier verschiedene Bauabschnitte in den Händen unterschiedlicher Firmen gewesen. Jedenfalls hatte man einige Meter Leitlinie vergessen. Er verfolgte den Lauf den Linie mit seinen Augen bis zum Supermarkt. Der Supermarkt war ein großes helles Gebäude mit einem großen Vordach entlang der gesamten Front, doch die Linie verlief nicht unter dem Dach, sondern ein Stück davor. Waren die Architekten davon ausgegangen, daß blinde Menschen gerne im Regen gingen? Aufgrund ihrer Anordnung hielten die meisten Autofahrer die weiße Linie wohl für eine Parkplatzbegrenzung. Jedenfalls nahmen sie es mit der Begrenzung nicht so genau, unzählige Autofronten überdeckten die Linie. Ein blinder Mann mit einem langen Stock lief die Linie entlang, der Stock blieb unter einem Wagen stecken. Als er ihn wieder herauszog, wies er einen deutlich sichtbaren Knick auf. Ohne Zögern bog der Blinde den Stock wieder zurecht, so als hätte er das schon tausend Male getan.

Sven Sommer ging auf den Eingang zu, eine breite Glasfront, die durch unzählige gleichartige Segmente unterteilt war. Welche Segmente waren die Tür? Es war auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Er zögerte einen Moment und entschied sich für die Segmente, hinter denen er auf der Innenseite einige Menschen sah. Richtig geraten! Eine automatische Schiebetür öffnete sich.

Im Inneren standen einige Einkaufswagen. Sie hatten eine seltsame Form. Der Griff schien an der falschen Seite angebracht zu sein. Sven Sommer wunderte sich und schaute genauer hin. An der Seite prangte das bekannte Rollstuhlfahrersymbol. Wo waren die normalen? Etwa nur auf dem Parkplatz? Gingen die Erbauer davon aus, daß man hier nicht zu Fuß hinkam?

Er blickte sich um und entdeckte ein paar Meter neben sich eine ältere Frau, die unschlüssig vor einem Pfandautomaten stand. Er trat näher heran.

Kann ich Ihnen helfen?

Wissen Sie, wie man diesen Automaten bedient?

Der Automat wirkte harmlos, zwei Türen, dahinter Aufnahmefächer für leere Flaschen und ein Knopf, um den Pfandbon auszugeben. Nichts, vor dem man Angst haben mußte. Sven Sommer öffnete eine der Türen, nahm der alten Frau eine Flasche ab, stellte sie in das Fach und schloß die Tür wieder.

Sehen Sie? So einfach ist das!

Die alte Frau starrte auf den Automaten. Nichts passierte. Auch Sven Sommer beschlich ein unangenehmes Gefühl. Nach einigen Sekunden Wartezeit entnahm er die Flasche aus dem oberen Leergutfach und stellte sie in das untere.

Wahrscheinlich ist das obere Fach voll, erklärte er fachmännisch.

Wieder einige Sekunden Wartezeit, wieder passierte nichts.

Wenn’s nicht funktioniert, schrauben Sie den Deckel ab! Eine laute Stimme aus Kassenrichtung.

Irritiert schraubte Sven Sommer den Deckel von der Flasche und stellte sie zurück in den Automaten. Mit lautem Getöse und Gerumpel verschwand die Flasche im Inneren.

Das soll man als alte Frau verstehen! rief die ältere Dame und begann, die Deckel von den Flaschen zu schrauben.

Sven Sommer legte den Flaschendeckel auf den Automaten, wo sich bereits zahlreiche andere Exemplare versammelt hatten. Komisch, die waren ihm vorher gar nicht aufgefallen. Nachdem sämtliche Flaschen im Automaten verschwunden waren, drückte er auf den Knopf zur Ausgabe des Pfandbons. Ein Stück Papier schob sich heraus. Sven Sommer zog herzhaft daran, das Papier zerriß in der Mitte (Abbildung 24).


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Abbildung 24: Stark vereinfachter Querschnitt durch die Papierausgabe eines Pfandautomaten. In der linken Version muß der Pfandbon nach unten gezogen werden, damit er durch die Abrißkante korrekt abgetrennt wird. In der rechten Version ist durch eine geänderte Papierführung sichergestellt, daß der Bon in der richtigen Richtung entnommen wird.


Sie müssen den Bon nach unten abziehen! sagte jemand aus der Schlange, die sich in der Zwischenzeit hinter ihm gebildet hatte.

Der Bon enthielt glücklicherweise noch die Endsumme. Sven Sommer überreichte ihn der alten Dame und schritt in den Verkaufsbereich. Die Gänge waren breiter als gewöhnlich, so daß er sich sofort wohl fühlte. Neulich war er in einem Markt gewesen, in dem die Gangbreite die Breite von zwei Einkaufswagen nur wenig überschritt. Natürlich gingen die Kunden nicht streng nach Vorschrift exakt an den Rändern der Regale entlang. Außerdem stellten sie ihre Einkaufswagen in respektvollem Abstand zu den Regalen ab, wo sie die Überholer blockierten. War das ein Gedränge!

Neben ihm ging eine Mutter mit ihrem Kind. Das Kind zählte die Cornflakespackungen in den Regalen. Sven Sommer lauschte.

Achtundneunzig, neunundneunzig, hundert, einhundert, zweihundert. [24]

Nein, nein! wies die Mutter das Kind zurecht. Es heißt nicht hundert, einhundert, zweihundert, sondern hundert, hundertundeins, hundertundzwei. Du bist ja so dumm. Was soll nur aus Dir werden?

Das Kind senkte bekümmert den Kopf und schwieg. Es hatte den Spaß an der Mathematik verloren. Sven Sommer überlegte. War das Kind wirklich so dumm? Es hieß ja auch neunzig, einundneunzig, zweiundneunzig. Bei den zweistelligen Zahlen war es üblich, die niedrigste Ziffer zuerst zu nennen. Warum also nicht hundert, einhundert, zweihundert, wenn man 100, 101 und 102 meinte? Das war nicht konsistent. Das Zahlensystem war dumm und nicht das Kind. Sven Sommer wunderte sich, woran man sich alles gewöhnen konnte. Zahlen schienen so selbstverständlich und logisch. Nur ein Kind konnte diese Unlogik aufdecken, weil es die dreistelligen Zahlen neu erlernen mußte. War es beim Produktdesign genau so? Hatten die Entwickler den Blick für das Unlogische verloren, weil es für sie selbstverständlich war? Seine Gedanken wurden jäh unterbrochen.

Entschuldigung, können Sie mir bitte helfen? Ich komme nicht an den Joghurt. Eine ältere Dame deutete nach oben in Richtung Joghurt. Sie war klein, wie es ältere Menschen häufig sind. Das Regal war hoch, zu hoch für sie. Sven Sommer reichte ihr den Joghurt und ging weiter.

Entschuldigung, können Sie mir bitte helfen? Ich komme nicht an den Zucker. Ich kann mich nicht mehr richtig bücken. Ein älterer Herr deutete auf das unterste Regalfach. Dort stand der Zucker ganz hinten, so daß Sven Sommer in die Hocke gehen mußte, um ihn zu erreichen. Er gab dem Mann ein Paket und ging weiter.

Entschuldigung, können Sie mir bitte helfen? Ich kann den Preis für die Brokkoli nicht lesen. Meine Augen sind nicht mehr so gut. Eine ältere Dame mit einer Lupe in der Hand beugte sich über die Tiefkühltruhe. Obwohl an den Regalen mustergültige große Preise standen, hatte man es in der Tiefkühlabteilung versäumt. Zu allem Überfluß waren die Preisschilder in der Mitte der Truhen angebracht, so daß es nicht möglich war, mit den Augen näher heranzugehen. Sven Sommer nannte der Dame den Preis und ging weiter.

Das ist seltsam, dachte er. Obwohl dieser Supermarkt damit wirbt, die Bedürfnisse älterer Leute und Behinderter zu berücksichtigen, sieht die Realität ganz anders aus. Das ist selbst für mich offensichtlich. Warum werden die Mängel nicht beseitigt? Das kann doch nicht so schwer sein?

Nach einiger Sucherei war Sven Sommer am Ziel. Er nahm einige Kleinigkeiten aus dem Regal und machte sich auf den Weg zur Kasse. Dort wählte er die kürzeste Schlange und stellte sich hinten an. Vor ihm stand eine kleine zierliche Frau mittleren Alters und legte ihre Waren auf das Band. Kurze Zeit später hatte sie ein Problem. Einige Waren lagen vorne im Einkaufswagen und sie war zu klein, um diese zu erreichen. Sie legte sich nach vorn über den Wagen und streckte einen Arm. Vergeblich, der Arm war zu kurz und wurde nicht länger. Die Frau versuchte, sich am Einkaufswagen vorbei zu quetschen und die Waren von der Seite zu erreichen. Wieder kein Erfolg. Der Gang war zu eng und sie kam nicht vorbei. Sie drehte sich zu Sven Sommer um.

Entschuldigung, können Sie mir bitte helfen? Ich komme da nicht dran.

Sven Sommer schritt beherzt ein. Er setzte einen Fuß unten auf den Wagen und zog kraftvoll am Griff. Das Vorderteil des Einkaufswagens hob vom Boden ab und die Waren purzelten nach hinten.

Bitte sehr!

Die Frau schaute ihn entgeistert an. Sie sagte nichts und fuhr fort, ihre Waren auf das Band zu legen.

Das hier ist eine Schnellkasse, nicht mehr als sieben Artikel! Haben Sie denn das Schild nicht gesehen? Die Kassiererin deutete aufgeregt in die Luft.

Die Frau schaute sich verunsichert um. Sven Sommer tat es ihr nach. Dort war kein Schild zu entdecken.

Ausnahmsweise können Sie hierbleiben. Sie haben ja schon alle Waren auf das Band gelegt. Leichte Verständnislosigkeit klang in der Stimme der Kassiererin mit.

Nun legte auch Sven Sommer seine Waren auf das Band. Er griff nach einem Trennstab neben dem Band, um seinen Einkauf von dem der Vorgängerin abzugrenzen. Seine Hand kam leer zurück. Der Stab blieb liegen. Er analysierte den Mechanismus. Die Führungsschiene war so hochgezogen, daß man den Stab nur am oberen Rand greifen konnte. Außerdem war der Stab so exakt eingepaßt, daß man ihn genau nach oben ziehen mußte, um ihn zu entnehmen. Warum wurde dieser Mißstand nicht beseitigt? Jede Kassiererin mußte hundert Mal am Tag beobachten, daß die Kunden damit Probleme hatten.

Vor Sven Sommer kam es erneut zu einem Problem. Das Laufband war zu abrupt angefahren und eine Flasche polterte zu Boden, sie war zum Glück nur aus Kunststoff. Die Frau hob die Flasche mit einigen ungelenken Bewegungen vom Boden auf. Derweil hatte die Kassiererin ein Produkt ohne Barcode entdeckt und wußte den Preis nicht. Jetzt mußte jemand vom Personal gerufen werden, der durch den Supermarkt lief, um den Preis zu ermitteln.

Macht insgesamt 25 Euro und 19 Cent! Die Kassiererin war genervt.

Was? Wieviel? Ich kann den Preis nicht ablesen. Die Anzeige ist zu weit weg.

Sven Sommer schaute zur Kasse. Tatsächlich, die Kassenanzeige war mindestens 1,5m von der Stelle entfernt, wo die Kundin ihre Taschen packte. Zu weit für Menschen, die nicht so gut sehen konnten. Nach längerer Wartezeit war er endlich an der Reihe. Lustlos schob die Kassiererin die Waren über den Scanner.

Macht 7 Euro und 79 Cent!

Sven Sommer suchte in seinem Portemonnaie und gab der Kassiererin 8 Euro 29. Die Kassiererin sah ihn verwundert an.

Das ist zu viel! sagte sie bestimmt.

Aber so können Sie mir leichter herausgeben, erwiderte Sven Sommer.

Die Kassiererin stutzte kurz, tippte dann die Summe in die Kasse und gab ihm 50 Cent. Den Kassenzettel legte sie auf das Laufband, wo er platt wie eine Flunder liegenblieb. Sven Sommer griff nach dem Zettel, aber er war wie festgeklebt. Aus Erfahrung wußte er, daß Kassenzettel eine erstaunlich feste Verbindung mit Laufbändern eingehen können. Er gab auf und eilte davon, nicht ohne sich noch einmal umzudrehen und nach dem Schnellkasse-Schild zu suchen. Tatsächlich. Jetzt sah er es. Das Schild hing weit vor der Kasse und war nur von der Seite ablesbar. Wer direkt auf die Kasse zuging, konnte die Schrift nicht erkennen.

Er war einige Schritte rückwärts gegangen und wäre beinahe mit einer langen Schlange von Frauen kollidiert. Gerade noch rechtzeitig stoppte er vor einer jungen Frau, die jetzt direkt vor ihm stand.

Oh, Verzeihung! Gibt’s hier was umsonst? meinte er überrascht.

Nein, das ist die Damentoilette! antwortete die Frau, wobei sie ihn giftig anblickte. Aus irgendwelchen Gründen sind die Damentoiletten immer genau so groß wie Herrentoiletten. Männern kommt wohl nicht in den Sinn, daß sie da einen gewissen Vorteil besitzen? Aber dafür denken Frauen mit dem Gehirn!

Sven Sommer machte sich davon. Es war besser, sich nicht auf eine Diskussion einzulassen. Während er durch die Vorhalle eilte, entdeckte er einen älteren Mann, der unschlüssig mit seinem Einkaufswagen vor einem Nebeneingang stand. Sven Sommer erkannte das Problem. Der Nebeneingang war mit einer Drehtür versehen, die so klein war, daß es erhebliches Geschick erforderte, mit einem Einkaufswagen hindurchzunavigieren, eine Rentnerfalle. Der alte Herr hatte wahrscheinlich Probleme mit der Orientierung und den Hauptausgang nicht gefunden.

Sie können auch dort hinten raus! rief er ihm zu.

Der alte Herr setzte sich Richtung Hauptausgang in Bewegung. Sven Sommer trat in’s Freie. Eine Jugendliche, ungepflegt, kaugummikauend, versperrte ihm den Weg.

Ham Se ’mal ’nen Euro?

Ich gebe Schnorrern nichts, erwiderte er barsch.

Nein, nein, ich brauch das Geld für den Einkaufswagen. Die funktionieren nur mit 1-Euro-Stücken. Ich kann wechseln. Sie hielt ihm zwei 50-Cent-Stücke hin.

Sven Sommer nahm die 50-Cent-Stücke und gab der Jugendlichen 1 Euro. Sicherheitshalber beäugte er die Geldstücke in seiner Hand. Sie schienen echt zu sein. Er ging zurück und holte seinen Wagen aus der Tiefgarage. Dann machte er sich auf den Weg zum Hotel.