6 Krisensitzung

6.1 Kampfspiele

Sven Sommer strebte gelassen auf das Gebäude seines Vertriebspartners zu, ein nüchterner grauer Zweckbau, auf dem ein kühles blaues Logo thronte. Überdachte Fußwege, von zurückhaltendem Grün umsäumt, führten Richtung Eingang. Die Überdachung endete jedoch unerwartet einige Meter vor dem Eingang und gab den überraschten Besucher für kurze Zeit den Launen des Himmels preis. Wahrscheinlich waren Gebäude und Wege von verschiedenen Architekten konstruiert worden, deren Werke einen gebührenden Abstand voneinander hielten. Im Foyer des Gebäudes befand sich eine undefinierbare Plastik, deren Bedeutung wohl niemand kannte, aber sie erschien oft auf Pressefotos.

Rechts hinter der Plastik wartete eine zierliche Dame hinter einem wuchtigen Tresen auf Besucher. Ihr gegenüber stand ein bulliger Typ in einer Phantasieuniform und machte ein grimmiges Gesicht. Sven Sommer schloß daraus, daß es sich um Wachpersonal handelte. Er nickte grüßend hinüber und trat vor den Empfangstresen. Der bullige Typ reagierte nicht.

Guten Tag, mein Name ist Sommer. Ich habe einen Termin mit Herrn Sanders.

Ah, Herr Sommer. Herr Sanders erwartet Sie bereits. Füllen Sie bitte diesen Zettel aus. Die Dame reichte ihm einen Block mit Formularen und einen Kugelschreiber.

Danke sehr. Er nahm den Kugelschreiber und drückte auf das Ende, um die Mine herauszufahren. Nichts passierte. Eines von diesen Drehteilen, erkannte er. Kugelschreiber mit Zweihandbedienung.

Die zierliche Dame blickte ihn verständnislos an. Sie müssen nur Ihren Namen und Ihren Gesprächspartner angeben. Alles andere mache ich schon. Und vergessen Sie bitte nicht, zu unterschreiben.

So genau hatte er es gar nicht wissen wollen. Wieso klärte sie ihn über das Ausfüllen des Formulars auf, wenn er eine Bemerkung über den Kugelschreiber machte? Widerstandslos verzierte er die offenen Felder mit den gewünschten Namen und setzte seine Unterschrift darunter. Die Dame warf einen langen prüfenden Blick auf das Papier, Spannung lag in der Luft. Sven Sommer hielt unwillkürlich den Atem an. Nach einer Kunstpause entspannte sich ihr Gesicht.

Das ist Ihr Besucherausweis. Bitte tragen Sie ihn offen sichtbar. Herr Sanders wartet im vierten Stock, Zimmer 412. Sie können die Tür dort benutzen. Sie reichte ihm eine kleine Plastikkarte und zeigte in Richtung einer Drehtür.

Vielen Dank. Sven Sommer bewegte sich schon auf die Drehtür zu.

Sie müssen den Ausweis an den Pfeiler halten, rief sie ihm nach.

Vor der Drehtür befand sich ein kleiner Pfeiler, ein Lesegerät für den Ausweis. Er kannte das System bereits. Sobald das Gerät einen gültigen Ausweis erkannt hatte, gab es einen Piepton und die Drehtür wurde entriegelt. Auf diese Weise erhielten nur Befugte Einlaß in die Firma.

Der Besucherausweis war gültig. Mit dem obligatorischem Piep gab das Gerät den Eingang frei. Sven Sommer verschwand in der Drehtür und wurde plötzlich von seiner Aktentasche zurückgerissen. Verwirrt blickte er sich um. Die Aktentasche hatte sich in der Drehtür festgeklemmt. Vorsichtig versuchte er, das kostbare Stück zu befreien — vergebens. Weder Tasche noch Tür ließen sich bewegen. Schlagartig erkannte er seine Situation: Er war gefangen. Sein Herz schlug schneller.

Mit stampfenden Schritten bewegte sich der bullige Typ gemächlich auf die Drehtür zu. Sein grimmiger Ausdruck war einem breiten Grinsen gewichen.

Da sind Sie heute schon der Dritte! Die Stimme war so laut, daß Sven Sommer befürchtete, der Wachmann wolle die Tür akustisch sprengen.

Na ja, da kommt nicht jeder mit zurecht. Der bullige Typ hatte einen kleinen Schlüssel gezogen und hantierte damit an der Tür. Nach wenigen Augenblicken war die Aktentasche befreit. Sven Sommer trat auf die andere Seite der Tür und floh Richtung Fahrstuhl.

Schönen Tag noch! rief ihm die laute Stimme nach, vor Lachen bebend.

Sven Sommer stand unschlüssig vor dem Fahrstuhl, entschied sich dann jedoch spontan für die Treppe. Vielleicht war es besser, kein unnötiges Risiko einzugehen und gesünder als Fahrstuhlfahren war Treppensteigen allemal. Schwer atmend erreichte er den vierten Stock. Er hielt kurz inne und machte sich auf den Weg Richtung Konferenzraum. Herr Sanders erwartete ihn bereits auf dem Gang.

Willkommen Herr Sommer! Ich hoffe, Sie hatten eine gute Anreise.

Danke, keine besonderen Vorkommnisse. Aber ich mußte im Parkhaus parken, weil hier in der Gegend Parkverbot herrscht.

Aber das gilt doch nur Donnerstags, meinte Herr Sanders verständnislos.

Danke für den Hinweis. Sven Sommer sah bereits den Konferenzraum. Tür und Wände waren Richtung Gang durchsichtig. Darin saßen bereits einige Menschen. An der Tür befand sich eine breite vertikale Stange, wie die Haltestangen in der S-Bahn. Er zog daran. Nichts passierte. Instinktiv drückte er, zog wieder und drückte noch einmal. Drei Augenpaare aus dem Besprechungsraum richteten sich auf ihn.

Das ist eine Schiebetür.

Verärgert schob Sven Sommer die Tür zur Seite. Guten Tag, ich bin Sven Sommer, CEO 1, begrüßte er die ihn taxierenden Anwesenden.

Herr Sanders stellte ihm die anderen Konferenzteilnehmer vor. Ihm zur Seite standen Max Xenon, sein Marketing-Direktor, Friedrich Edelmann, Public Relations Manager2 und Peter Müller, Controller3. Außerdem war ein externer Consultant4 eingeladen worden, Roland Ärger von der Unternehmensberatung McClumsy.

Hoffentlich ist der Name nicht Programm, dachte Sven Sommer, hielt sich aber mit Bemerkungen zurück. Schließlich konnte der Mann nichts für seinen Namen. Mühsam arbeitete er sich zum vorderen Ende des Konferenztisches vor, wobei er immer wieder Stühle zur Seite schob, die zwischen Tisch und Wand standen und somit den Weg blockierten. Wahrscheinlich war der Architekt stolz auf seine platzsparende Bauweise.

Sven Sommer setzte sich und schaute in die Runde. Einer fehlte noch, Dilb Erdmann, sein Chefingenieur, heutzutage CTO5 genannt. Das war wieder typisch, technikverliebt bis ins kleinste Detail, aber unfähig, pünktlich zu einem Meeting6 zu erscheinen.

Herr Sanders war nach vorne getreten, um eine kleine Ansprache zu halten.

Einen Kaffee? fragte eine leise weibliche Stimme.

Ja bitte, sagte Sven Sommer.

Die Tasse vor ihm füllte sich mit dem heißen schwarzen Getränk.

Ich bin’s, sagte die leise weibliche Stimme, noch eine Spur leiser.

Sven Sommer schaute auf — die junge Frau aus dem Parkhaus.

Hallo, erwiderte er leise und versuchte, ein freundliches Lächeln aufzusetzen. Wie konnte ihm das passieren? Er hatte die junge Frau überhaupt nicht wahrgenommen, geschweige denn erkannt. Seine Konzentration galt voll und ganz Herrn Sanders.

Dieser begann jetzt mit einer freundlichen Begrüßung, die er ebensogut an die Besucher eines Freizeitparks hätte richten können. Langatmig bedankte er sich bei den Anwesenden für ihr Kommen und porträtierte in schillernden Worten seine Firma, was allerdings nur für den McClumsy-Mann irgendeinen Neuigkeitswert besaß. Danach lobte er die von seinen Räumlichkeiten ausgehende produktive Atmosphäre sowie die teamorientierte Arbeitsweise der Zuhörer, die in der Vergangenheit stets zu innovativen Lösungen geführt hatte. Als er begann, seinen Blick in die Zukunft zu richten, wurde er jäh unterbrochen.

Vor der Tür stand eine Gestalt und rüttelte an der Stange. Herr Sanders hielt inne. Alle Augen richteten sich auf die Tür. Nach einigen vergeblichen Versuchen erkannte die Gestalt das Funktionsprinzip und trat ein: Dilb Erdmann, der Ingenieur.

Entschuldigen Sie bitte, daß ich so spät komme. Ich habe keinen Parkplatz gefunden.

Das Parkverbot gilt nur Donnerstags, sagte Sven Sommer und strafte Dilb Erdmann mit einem mißbilligenden Blick. Sein Blick blieb an einer Krawatte hängen, die sich offenbar nicht mit dem für sie vorgesehenen Platz begnügen konnte und stattdessen ein lustiges Eigenleben im Brustbereich führte. Wieder einmal zu spät, dachte er. Und der Mann hat immer noch nicht gelernt, seine Krawatte zu binden. Dilb Erdmann schlich an einen leeren Platz und setzte sich, wobei er versuchte, möglichst unauffällig zu wirken.

Herr Sanders fuhr mit seinem Vortrag fort. Dilb Erdmann kramte in seiner Tasche. Die junge Frau mit dem Kaffee blieb unschlüssig neben ihm stehen. Sven Sommer schaute abwechselnd zu Dilb Erdmann und der jungen Frau, wobei seine Laune zwischen Ärger und Wohlgefallen wechselte. Herr Sanders hatte sich derweil in seinen Vortrag vertieft und beachtete seine Zuhörer nicht mehr. Der Unternehmensberater hörte aufmerksam zu, die Marketingleute spielten mit ihren Kugelschreibern und der Controller fiel nicht weiter auf.

Herr Ärger von der Unternehmensberatung McClumsy hat sich in den vergangenen Wochen mit der Situation vertraut gemacht und wird uns einige Vorschläge unterbreiten. Mit diesen Worten schloß Herr Sanders seinen Vortrag. Leichte Unruhe breitete sich in der Runde aus. Die Erwartungen an einen McClumsy-Berater waren hoch.

Sven Sommer mochte Berater nicht besonders. Der McClumsy-Mann sah so aus, als sei er einem Studentenferiencamp entlaufen und dann in einen Armani-Anzug gesteckt worden, smart, sportliche Figur und braungebrannt. Wahrscheinlich vollgestopft mit theoretischem Wissen, das er erstmals an einem Kunden ausprobieren wollte. Wie dem auch sei, seine Krawatte war jedenfalls äußerst geschmackvoll. Sven Sommer zollte in Gedanken leichte Anerkennung. Vielleicht war dieser Berater tatsächlich die Lösung seiner Probleme.

Der McClumsy-Mann ging hoch aufgerichtet nach vorne. Seine Statur übertraf die Größe der anderen Anwesenden um einige Zentimeter. Spannung lag in der Luft. Mit geübten Griffen machte er sich an seinem Notebook zu schaffen. Gleich macht er wieder die typische Beraterbewegung, tuschelte irgend jemand. Der McClumsy-Mann drehte sich zur Seite und vollführte einen altmodisch anmutenden Diener, als hätte der Kaiser von Japan soeben das Zimmer betreten. Mit gebeugtem Oberkörper streckte er eine Hand nach vorne und bewegte sich auf die Wand zu. In der Wand befand sich eine Steckdose, in der Hand der Stecker des Mobilrechners. Der McClumsy-Mann schob den Stecker kraftvoll in die Dose, aber dieser leistete unerwartet Widerstand und ließ sich nicht hineinschieben. Ein leises Klicken fuhr durch den Raum, als der Stecker mehrfach erfolglos nach den Löchern in der Steckdose tastete. Der McClumsy-Mann mußte sich etwas tiefer beugen, um die Steckdose näher in Augenschein zu nehmen. Der Stecker mußte um 90 Grad gedreht werden. Mehrere Steckdosen waren so angeordnet, daß sich Stecker gegenseitig blockieren konnten (Abbildung 15). Der McClumsy-Mann vollendete seine Handlung und wendete sich wieder dem Publikum zu. Er schien um mehrere Zentimeter kleiner geworden zu sein.


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Abbildung 15: Steckdosenleiste, bei der sich die Stecker gegenseitig blockieren können. Die Dosen müßten etwas gedreht werden, um die volle Funktionalität zu gewährleisten.


Meine Dame, meine Herren! Bei Meine Dame schaute er in Richtung der jungen Frau mit dem Kaffee. Die junge Frau schaute mit leuchtenden Augen zurück.

Danke für Ihre Einladung! Mein Name ist Roland Ärger, ich bin Consultant bei McClumsy. Bevor ich zum eigentlichen Thema komme, möchte ich noch ein paar einleitende Worte zu McClumsy sagen. McClumsy ist eine der führenden Beratungsgesellschaften weltweit. Zu unseren Kunden gehören die meisten Global Top Players sowie viele erfolgreiche Mittelständler. Er schaute zu Sven Sommer. Wir glauben, daß Wachstum die beste Strategie für jedes Unternehmen ist. Zustimmendes Nicken unter den Zuhörern.

Dabei begleiten wir unsere Kunden entlang der kompletten Wertschöpfungskette. Es ist unsere Mission, die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern und den bestmöglichen Return on Investment zu liefern. Wir setzen Visionen in Realität um und implementieren neue Rule breaking Strategies, um starke Unternehmen und innovative Business-Prozesse hervorzubringen. Für uns ist der Kunde ein Partner, dessen Profit im Mittelpunkt unseres Denkens steht. Unsere Philosophie war es stets, durch langfristige Kooperationen einen möglichst hohen Customer Value zu generieren, wobei unser strategisches Consulting mehr Kunst als Wissenschaft ist.

An dieser Stelle unterbrach irres Gelächter die Rede. Die Zuhörer blickten sich irritiert um. Das Gelächter kam aus Richtung der jungen Frau mit dem Kaffee, es klang wie von einem alten Lachsack. Die junge Frau starrte mit großen Augen in die Runde. Die Blicke der Anwesenden schienen sie an der Wand festzunageln. Mit unsicheren Bewegungen stellte sie die Kaffeekanne auf einen Tisch und begann, an ihrer Kleidung herumzufummeln. Die Augen einiger Zuschauer weiteten sich. Schließlich zog sie ein kleines Handy hervor. Das Gelächter wurde lauter. Ihr Blick sprang kurz in Richtung der Zuschauer, dann wieder auf das Handy. Sie wußte nicht, was sie tun sollte. Ans Handy zu gehen würde das Gelächter beenden, war aber unhöflich. Entschuldigung, murmelte sie leise und eilte aus dem Zimmer. Auf die simple Lösung, das Handy auszuschalten, kam sie in dieser Streßsituation nicht.

Der McClumsy-Mann fuhr fort, verzichtete aber auf weitere Erläuterungen zur Firma. Nach Angaben von Herrn Sanders hat der Neueintritt eines Konkurrenten in den Markt zu signifikanten Änderungen im Wettbewerbsumfeld geführt. Dieser Wettbewerber stellt eine Gefahr für Ihre dominante Marktposition dar.

An der Wand erschien eine Zeichnung, die das Marktumfeld illustrieren sollte. Es hätte allerdings auch eine Aufstellung von Napoleons Truppen bei der Schlacht von Waterloo sein können, einige Kreise mit Pfeilen dazwischen. In den Kreisen und an den Pfeilen befanden sich Wörter, aber die Schriften waren so klein, daß niemand der Zuschauer sie wirklich entziffern konnte. Vielleicht war es auch der Spielplan der Fußballnationalmannschaft. Die Anwesenden nickten zustimmend.

Es ist unser gemeinsames Ziel, Ihre Marktposition zu stärken und die Profite zu erhöhen! An der Wand erschien eine Pyramide, an deren Spitze die von Sven Sommer und Herrn Sanders geführten Firmen standen. Wieder zustimmendes Nicken. Deshalb schlagen wir Ihnen im ersten Schritt eine detaillierte Analyse des mikroökonomischen Umfeldes Ihrer Unternehmen vor. Diese Analyse ist die elementare Grundlage für eine Neuvalidierung der Situation. Aufgrund der gewonnenen Daten können wir mit Hilfe des von McClumsy entwickelten kompetetiven Wettbewerbsmodells, kurz KWM, zukunftssichere Strategien entwickeln, um den Cash Flow zu erhöhen und Ihre Marktdominanz zu sichern. Ich bin der festen Überzeugung, daß wir in einem gemeinsamen von McClumsy moderierten Workshop schnell zu positiven Ergebnissen kommen werden.

Die Zuhörer waren erstaunt. Der junge McClumsy-Mann verfügte offensichtlich über großes Fachwissen. Gut, so einen Berater im Haus zu haben. Sven Sommer jedoch war unsicher. Mira Kell war auch eine Beraterin und hatte sich weitaus deutlicher ausgedrückt. Er war ein Fan klarer Worte.

Wie wir alle wissen, sind nicht alle Produkte eines Unternehmens gleichermaßen erfolgreich. Die Zuhörer stimmten leise zu. Jedes Unternehmen muß seine Ressourcen deshalb auf die starken zukunftsträchtigen Geschäftsfelder konzentrieren. Die Portfolio-Analyse ist eine bewährte Technik, die Verlierer von den Gewinnern zu unterscheiden.

An der Wand erschien erschien das Bild einer Matrix, in der verschiedene Geschäftsfelder nach Marktanteil und Wachstum eingeordnet waren (Abbildung 16).


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Abbildung 16: Portfolio-Analyse nach Boston Consulting: Geschäftsfelder werden nach Marktanteil und Wachstumspotential eingeordnet. Ziel ist es, sich auf gewinnstarke Geschäftsfelder zu konzentrieren oder schwache Geschäftsfelder zu starken zu machen. Das einfache Bild verschleiert aber die in der Praxis oft sehr komplexe Marktsituation.


Wie Sie sehen, lassen sich Geschäftsfelder in vier Kategorien einteilen: Cash Cows, Stars, Problem Childs und Dogs. Dogs weisen einen geringen Marktanteil und niedriges Wachstum auf. Verbannen Sie diese Geschäftsfelder aus Ihrem Portfolio! Bei den Problemkindern ist nicht bekannt, wie sie sich zukünftig entwickeln werden. Sie haben einen geringen Marktanteil, aber gleichzeitig hohe Wachstumschancen. Cash Cows und Stars sind Ihre Trümpfe. Cash Cows besitzen einen hohen Marktanteil, aber das Marktsegment wächst kaum. Cash Cows bringen Geld und benötigen geringe Investitionen. Stars weisen einen hohen Marktanteil und ein hohes Wachstum auf, aber aufgrund dieses Wachstums sind ständige Neuinvestitionen nötig.

Der McClumsy-Mann machte eine Pause. Staunende Stille breitete sich unter den Zuhörern aus. Sven Sommer blickte sich um. Er kannte die Portfolio-Analyse aus diversen Lehrbüchern. Für die anderen schien es allerdings Neuland zu sein. Der Controller meldete sich zu Wort:

Ich habe schon oft darauf hingewiesen, daß unsere Budgets begrenzt sind. Wir müssen die Ausgaben reduzieren. So wie ich die Sache sehe, erfordern Stars und Problemkinder permanente Neuinvestitionen. Wir sollten konsequenterweise dort ansetzen.

Es gibt immer mehrere Möglichkeiten. Statt weiterhin Budgets zu kürzen, müssen wir den Absatz steigern. Das geht am besten über umfangreiche Marketingaktionen. Es ist doch offensichtlich, daß der Marktanteil von Problemkindern und dösenden Hunden gestärkt werden muß. Nur mit offensiven und umfangreichen Werbekampagnen lassen sich Märkte erobern. Aber die kosten erst einmal Geld. Nur wer säht, kann hinterher die Früchte ernten. Deshalb benötigen wir im Marketing ein höheres Budget. Max Xenon hatte sich in Rage geredet. Friedrich Edelmann brachte seine Zustimmung durch heftiges Kopfnicken zum Ausdruck.

Sie wollen doch nur der Entwicklung das Wasser abgraben! Dilb Erdmann, der Ingenieur, war aufgestanden. Die Kunden kaufen die Produkte und nicht das Marketing. Wenn wir kein Geld für die Entwicklung neuer Produkte bekommen, ist es kein Wunder, daß wir irgendwann in’s Hintertreffen geraten.

Sie wissen überhaupt nicht, was die Kunden wollen! Wir hingegen haben den Kontakt zum Kunden. Am Kunden müssen wir uns orientieren und nicht an den komischen Ideen aus Ihrem ‚Entwicklungsland‘.

Wenn es nach Ihnen gänge, wäre die Entwicklung beim Faustkeil eingestellt worden! Wir wären heute noch Primitive!

Meine Herren! Der McClumsy-Mann erhob die Stimme. Lassen Sie uns diese Diskussion auf später verschieben. Wir haben uns hier zusammengefunden, um gemeinsam nach Lösungen zu suchen und Synergieeffekte zu nutzen. Ich möchte jetzt mit meinem Vortrag fortfahren. Das Gespräch verstummte, böse Blicke durchstreiften den Raum, wie Flakscheinwerfer auf der Suche nach einem neuen Ziel. Der McClumsy-Mann machte weiter.

Als dritten Punkt möchte ich Ihnen vorschlagen, die Struktur Ihrer Organisationen in einem neuen Licht zu betrachten. In der heutigen Zeit muß jede Organisation kurzfristig flexibel auf die Herausforderungen des Marktes reagieren, um langfristig gesundes Wachstum zu sichern. Reagiert Ihr Unternehmen schnell genug? Verfügen Sie bereits über die neuesten Methoden und das Knowledge, das Ihnen den Erfolg garantiert? Wo liegen Ihre Kernkompetenzen? Inwieweit nutzen Sie das Potential des Offshoring, um eine kostengünstige Produktion zu ermöglichen? Wie schneiden Sie beim Benchmarking im Vergleich zu konkurrierenden Unternehmen ab? Das sind nur einige der Fragen, die es zu beantworten gilt. Von den Antworten hängt die Überlebensfähigkeit Ihres Unternehmens ab! Auch andere Unternehmen entwickeln sich ständig weiter und können zu einer ernsten Gefahr werden. Wir von McClumsy haben schlagkräftige Organisationskonzepte entwickelt, mit denen Sie Ihren Gegnern überlegen sind. Unser integriertes Programm-Management ermöglicht es Ihnen, das Spektrum Ihrer Skills voll auszunutzen und die relevante Time to Market signifikant zu verkürzen. Deliver not shiver! So lautet das Motto! Lassen Sie uns den Weg in die Zukunft gemeinsam gehen. Mit McClumsy haben Sie einen starken Partner an Ihrer Seite. Der McClumsy-Mann beendete seinen Vortrag.

Ich bin nach wie vor der Meinung, daß wir eine konzertierte Marketingaktion benötigen, um die verlorenen Marktanteile wieder zurückzugewinnen. Wir sollten eine neue Marktmessage kreieren, um die Brand-Awareness beim Kunden zu steigern, konsistent, klar und unified. Diese neue Message können wir mit einer umfangreichen Cross-Media-Kampagne zum Kunden transferieren. Damit rollen wir den Markt auf und steigern unsere Credibility. Max Xenon hatte gesprochen.

Das ist doch nur Geschwätz! Der Kunde arbeitet mit unseren Produkten und nicht mit Marketingfloskeln. Das Produkt bestimmt, wie der Kunde uns wahrnimmt. Wir müssen mehr neue Produkte entwickeln.

Entwickler verstehen im allgemeinen wenig vom Marketing. Lassen Sie mich deswegen einige Grundlagen erläutern. Kunden werden mit der AIDA-Formel gewonnen: Attention, Interest, Desire, Action. Sie müssen zuerst die Aufmerksamkeit des Kunden wecken: Attention. Sonst nimmt der Kunde Ihr tolles Produkt nämlich überhaupt nicht wahr. Erst dann wird sein Interesse geweckt. Er beschäftigt sich näher mit dem Produkt und erweitert sein Wissen. Das Ganze nennt sich übrigens auch kognitive Phase, weil der Kunde das Produkt erst einmal wahrnimmt, bevor er irgend etwas anderes tut. Es muß Ihnen gelingen, daß Verlangen des Kunden zu wecken: Desire. Er befindet sich jetzt im affektiven Stadium, wo er eine Vorliebe für das Produkt entwickelt. Erst dann erfolgt die Handlung: Action. Der Kunde kauft das Produkt, das Stadium des Handelns. Ohne Marketing kommen Sie hier nicht weiter. Ich hoffe, ich habe mich klar genug ausgedrückt.

Ich mache darauf aufmerksam, daß der durchschnittliche IQ in der Entwicklung höher ist als im Marketing.

Wollen Sie mich etwa beleidigen? Die Eierköpfe in der Entwicklung glauben doch immer gleich, der Kunde benötigt eine Bohrmaschine, wenn er nur ein Loch in der Wand will!

Und Sie tun alles dafür, damit ihm das Loch in der Wand begehrenswert erscheint!

Sehr richtig, auch das gehört zu unseren Aufgaben!

Anstatt sich zu streiten, sollten Sie lieber einmal über Ihre letzten Budgetüberschreitungen nachdenken. Der Controller war eingesprungen. So kann es nicht weitergehen!

Dann ölen Sie erst mal Ihren Rechenschieber, damit endlich ordentliche Budgets herauskommen!

Ich benutze keinen Rechenschieber, sondern eine exzellente Tabellenkalkulation!

Und was hat die gekostet? Sie benutzen doch bestimmt keine Open-Source-Produkte, sondern teure proprietäre Software. Anstatt uns zu predigen, sollten Sie lieber den Rotstift bei sich selbst ansetzen.

Die Anschaffungskosten von Software stehen in keinem Verhältnis zu den sonstigen Kosten. Sie aus der Entwicklung glauben immer, nur die Produkte kosten Geld, aber es gibt auch Schulung, Wartung

Meine Herren! Bitte beruhigen Sie sich! So kommen wir nicht weiter! Sven Sommer stand an seinem Platz und sprach mit lauter Stimme. Ich schlage eine kleine Pause vor, damit sich alle etwas beruhigen können. Danach können wir hoffentlich mit einer produktiveren Diskussion fortfahren.

Herr Sanders bat Sven Sommer, sich mit ihm kurz in seinem Büro zu treffen. Während Herr Sanders noch einige Notizen sortierte, begannen die Pausengespräche.

Hast Du Dir die Kleine mit dem Kaffee genauer angeschaut?

Wenn die mit dem Schiff untergeht, braucht sie keine Schwimmweste, bei den Auftriebskörpern. Der Controller lachte und fuhr mit den Händen über seine imaginären Brüste.

Ha, ha, die wäre gut für’s Marketing geeignet, bei der Qualifikation7.

Sven Sommer fühlte sich unangenehm berührt. Seit dem Parkhaus fühlte er sich etwas als Beschützer der jungen Frau, aber was konnte er tun? Er entschied sich dafür, Herrn Sanders in sein Büro zu folgen.

Der McClumsy-Mann hatte die junge Frau im Flur entdeckt und steuert auf sie zu.

Das war nicht sehr höflich, wie Sie mich vorhin unterbrochen haben. Er setzte sein gewinnendstes Lächeln auf.

Entschuldigung, das wollte ich nicht.

Haben Sie schon einmal an einen etwas dezenteren Klingelton gedacht?

Ja schon, aber — Sie machte ein kurze Pause. Ich weiß nicht, wie man einen anderen Klingelton einstellt.

Zeigen Sie mir doch bitte einmal Ihr Handy. Der McClumsy-Mann triumphierte. Er wußte, seine Stunde war gekommen. Sie reichte ihm das Handy, auf dessen Display rätselhafte Symbole blaß leuchteten. Intuitiv entschied er sich für das Symbol mit den Musiknoten. Schließlich wollte er einen Ton verändern. In einer Ecke des Displays erschien das Wort Töne. Er war richtig.

Ein Kinderspiel, wenn man weiß, wo man suchen muß.

Da habe ich auch schon gesucht, verteidigte sich die junge Frau.

Der McClumsy-Mann ließ sich nicht beirren. Zielsicher drückte er auf den Knopf. Rufton einstellen erschien auf dem Display.

Sehen Sie? Hier wird der Klingelton eingestellt! Er hielt der jungen Frau das Display unter die Nase und drückte wieder auf den Knopf. Das Menü auf dem Display veränderte sich erneut: Ein, Aus, Beep.

Die junge Frau konnte und wollte ihre Schadenfreude nicht verbergen. So so, sagte sie mit einem breiten Grinsen.

Das gibt es doch nicht! Wie kann man nur so irreführende Bezeichnungen wählen? Er ging ein Menü zurück und besah es dieses Mal etwas genauer. Das Display zeigte vier Optionen: Rufton einstellen, Rufton, Gruppenruftöne und Anderer Rufton. (Abbildung 17)


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Abbildung 17: Handydisplay: Als der McClumsy-Mann den Klingelton eines Handys umstellen will, erscheint die abgebildete Auswahl. Die Bezeichnungen sind sehr unglücklich gewählt, weil nicht intuitiv ersichtlich ist, welcher Menüpunkt für welche Einstellungen zuständig ist. Beim realen Modell werden nicht alle Menüpunkte von der Gebrauchsanleitung erklärt. Die Bezeichnungen auf dem Handydisplay und in der Gebrauchsanleitung weichen sogar teilweise voneinander ab.


Der McClumsy-Mann war verwirrt. Was konnte sich hinter diesen Begriffen verbergen? Er wollte sich kein zweites Mal blamieren. Ohne etwas zu sagen, wählte er vorsichtig Rufton aus. Ein Volltreffer! Jetzt konnte er den Befehl Auswahl drücken. Eine Liste mit diversen Melodien erschien. Demonstrativ ließ er einige über den Flur erschallen.

Gefällt Ihnen diese hier? fragte er bei einer etwas dezenteren Tonkombination. Die junge Frau nickte. Er drückte auf Auswahl. Melodie aktualisiert stand jetzt auf dem Display.

Erledigt! War eigentlich ganz leicht. Er reichte das Handy zurück und zückte sein eigenes. Sagen Sie mir bitte Ihre Nummer, damit wir den Ton testen können. Sie nannte ihm ihre Telefonnummer. Der McClumsy-Mann beglückwünschte sich innerlich. Jetzt hatte er ihre Telefonnummer. Erwartungsvoll wählte er die Ziffernkombination, einige Sekunden vergingen in stiller Spannung, dann erklang das wohlbekannte Lachsacklachen über den Flur. Die junge Frau lachte auch. Es klang hell und frisch. Wenn sie lachte, war sie noch schöner.

Währenddessen hatten Herr Sanders und Sven Sommer im Büro platzgenommen und die Tür hinter sich geschlossen.

Was halten Sie vom bisherigen Verlauf der Besprechung? fragte Herr Sanders.

Ich wußte nicht, daß unsere Leute derartig zerstritten sind.

Ja, ich auch nicht. Es ist, als ob sie in verschiedenen Welten leben würden. Dabei haben wir alle die gleichen Ziele.

Vielleicht nicht ganz. Jede Abteilung hat etwas andere Ziele, Ihre Marketing-Leute wollen die große Aktion machen, der Controller will die Kontrolle, Dilb Erdmann will seine neuen Ideen ausprobieren und der Berater, was will der überhaupt?

Geld verdienen! Die beiden lachten.

Wollen wir das nicht alle? Hoffen wir, daß er für uns nützlich sein wird. Bisher finde ich ihn etwas hochgestochen.

Sie waren heute morgen auffällig zurückhaltend. Das ist doch sonst nicht ihre Art?

Ich hatte heute morgen eine Begegnung, die mich nachdenklich gemacht hat.

Eine Frau?

Eine Usability-Beraterin.

Juse-was?

Usability. Es geht um Benutzbarkeit. Wie die Bedienung von Geräten einfach und effizient gestaltet werden kann.

Sind dafür nicht Ihre Ingenieure zuständig?

Ich bin mir nicht mehr sicher. Jedenfalls sind Ingenieure ziemlich technikverliebt, wenn Sie verstehen, was ich meine?

Ja schon, wenn man denen sagt, sie sollen eine Uhr bauen, bauen sie ein Flugzeug mit einer Uhr im Cockpit.

Könnte es nicht sein, daß wir auf dem falschen Weg sind? Vor dem AZ956-5d3 waren wir immer erfolgreich. Jetzt suchen wir die Lösung für unsere Probleme in Umstrukturierungen und Kostensenkungen.

Eine Firma muß sich ständig dem Markt anpassen. Das erfordert eine permanente Erneuerung.

Fangen Sie jetzt nicht auch noch mit diesen Beraterfloskeln an! Sven Sommer hob beschwörend die Hände. Sollten wir nicht herausfinden, ob unsere derzeitige Misere eine konkrete Ursache hat?

Meistens snd viele Faktoren im Spiel. Was halten Sie davon, daß wir als nächstes den AZ956-5d3 diskutieren. Vielleicht werden die Leute dann auch etwas sachlicher.

Das ist ein guter Vorschlag.

So, und jetzt erzählen Sie mir doch etwas über Ihre neue Freundin, scherzte Herr Sanders. Scheint ja einen mächtigen Eindruck hinterlassen zu haben.

Sven Sommer erzählte von seiner Begegnung mit Mira Kell und den Grundlagen der Benutzbarkeit. Seine eigenen bitteren Morgenerfahrungen verschwieg er geflissentlich. Herr Sanders hörte interessiert zu.

Nach einiger Zeit beschlossen beide, die Pause zu beenden und mit der Gruppendiskussion fortzufahren. Im Flur standen die junge Frau und der McClumsy-Mann. Sie blickte gelangweilt in die Leere, er war intensiv in die Beschäftigung mit einem Handy vertieft. Als Sven Sommer sich näherte, trat die junge Frau einige Schritte auf ihn zu und strahlte ihn an.

Ich habe mich gefreut, Sie hier wiederzutreffen.

Ja, ich habe mich auch gefreut.

Sie kennen sich? fragte Herr Sanders verblüfft.

Herr Sommer ist gewissermaßen mein Retter. Ihr Strahlen war noch etwas intensiver geworden.

Sven Sommer lächelte zurück. Wir wollen weitermachen. Kommen Sie? Bei den letzten Worten hob er die Stimme, um auch die Aufmerksamkeit des McClumsy-Mannes zu erlangen. Gemeinsam gingen sie zurück in den Besprechungsraum. Der McClumsy-Mann trottete hinterher. Den anderen Teilnehmern war er heute morgen größer erschienen.

Nach und nach setzten sich alle wieder an ihre Plätze. Herr Sanders verteilte Werbeprospekte über die aktuelle Produktpalette, die junge Frau goß Kaffee nach.

Wir haben kurzfristig beschlossen, die aktuellen Produkte zum Gegenstand unserer Diskussion zu machen.

Max Xenon betrachtete den vor ihm liegenden Hochglanzprospekt mit einem mißmutigen Gesicht. Das Ding wirkt zu billig, der Kunde will, daß es teuer aussieht.

Aber das Werbematerial wurde doch von Ihnen entworfen!

Ich meinte das Gerät auf dem Cover. Es vermittelt den Eindruck geringer Wertigkeit.

Sie vom Marketing glauben immer, daß der Kunde nur das Aussehen kauft! Aber der Kunde muß mit dem Gerät arbeiten. Er will in erster Linie Funktionalität. Dilb Erdmann fuchtelte mit den Armen in der Luft herum.

Max Xenon bedachte ihn mit einem mitleidigen Blick. Sie ahnen gar nicht, wie viele Produkte tatsächlich nach Aussehen gekauft werden. Ihnen fehlt der Kundenkontakt. Und das ästhetische Empfinden ist bei Technikern ja bekannterweise nicht besonders ausgeprägt.

Dilb Erdmanns Augen wurden klein. Er machte einen angespannten Eindruck und suchte verzweifelt nach Worten, mit denen er Xenons Angriff kontern konnte. Der Controller nutzte die Situation.

Vielleicht sollten Sie Ihr ästhetisches Empfinden einmal auf Budgetgrenzen ausdehnen. Können Sie überhaupt nachvollziehen, wie häßlich eine Budgetüberschreitung ist? Das Gesicht des Controllers wirkte verkniffen.

Max Xenon bleib gelassen. Controlling ist doch so etwas wie die Fundamentalanalyse in der Finanzwelt. Man weiß hinterher immer genau, wo man vorher hätte investieren müssen.

Wir sollten uns jetzt wieder dem eigentlichen Thema zuwenden. Wir sind nicht hierhergekommen, um zu streiten. Herr Sanders klang ruhig, aber bestimmt. Würden Sie sich jetzt bitte dem AZ956-5d3 zuwenden. Er suchte im Prospekt nach der passenden Seite.

Unter welcher Kategorie steht denn das Gerät? Ich finde gar kein Inhaltsverzeichnis. Der McClumsy-Mann blätterte ziellos in den Unterlagen.

Die anderen Teilnehmer sahen ihn erstaunt an. Selbstverständlich unter Meßtechnik, erwiderte irgend jemand.

Wie war noch einmal die genaue Bezeichnung?

AZ956-5d3.

Ich habe hier den AZ956-5c3.

Das ist ein veraltetes Modell. Der AZ956-5d3 besitzt eine viel höhere Funktionalität, sagte Dilb Erdmann.

Das ist wieder einmal typisch Dilb Erdmann, dachte Sven Sommer. Die Aussage ist 100% korrekt, aber niemand kann etwas damit anfangen.

Blättern Sie ein paar Seiten weiter, bis zu dem Bild mit dem ernst dreinblickenden Mann.

Der McClumsy-Mann blätterte weiter. Auf der anderen Seite sah der Kerl aber glücklicher aus.

Wir haben uns bei dem neuen Modell für einen ernsteres Ambiente entschieden, um den Coolness Transfer zu erhöhen, erklärte Max Xenon.

Aha.

Die Teilnehmer betrachteten unschlüssig die vor ihnen liegende Seite. Ein ernster und kräftig erscheinender junger Mann blickte ihnen mit klaren Augen entgegen. Vor ihm der AZ956-5d3. Daneben ein weiteres Bild, das den AZ956-5d3 in Großaufnahme zeigte. Ein paar großgedruckte Slogans sowie eine Vielzahl kleingedruckter Angaben vervollständigten die Seite. Eine lähmende Stille hing im Raum.

Und wo liegen nun die Vorteile des Gerätes? fragte der McClumsy-Mann unsicher.

Aber das habe ich doch vorhin schon erklärt. Dilb Erdmann sprach jetzt betont langsam und deutlich. Er besitzt eine höhere Funktionalität. Er kann viel mehr.

Der McClumsy-Mann blätterte einige Seiten zurück. Abwechselnd betrachtete er das neue und das alte Modell. Das neue Gerät hatte mehr Knöpfe und Schalter. Er überflog den Text, einmal, zweimal und noch einmal, konnte jedoch nicht erkennen, worin die Unterschiede konkret bestanden. Die Merkmale der einzelnen Produkte standen dichtgedrängt hintereinander (Abbildung 18). Was sollte er antworten? Er entschied sich für die Flucht nach vorn:


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Abbildung 18: Einige Möglichkeiten, die Merkmale von Produkten als Aufzählung darzustellen. Versuchen Sie einmal, schnell herauszufinden, welche Merkmale Produkt 3 mehr hat als Produkt 2 und welche fehlen. Der McClumsy-Mann bevorzugt die Tabellenform der Darstellung (Abbildung 19).


Gibt es irgendwo eine Feature Matrix?

Eine was, bitte?

In einer Feature Matrix stehen verschiedene Geräte und verfügbare Features in den Zeilen und Spalten. Der Schnittpunkt zwischen Zeile und Spalte ist markiert, wenn ein Gerät das entsprechende Merkmal besitzt. (Abbildung 19)


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Abbildung 19: Zwei Merkmalstabellen im Vergleich. Die untere Tabelle enthält zusätzliche Informationen zu den Zielgruppen der Produkte. Die Lesbarkeit wurde durch die Farbgebung erhöht.


Wir hatten früher einmal eine, haben sie dann aber wieder entfernt.

Warum denn das?

Den Kunden ist es schwergefallen, das für sie passende Gerät auszuwählen, erläuterte Max Xenon trocken. Und die Grafiker meinten, die Tabelle wäre ohnehin langweilig und ohne würde es besser aussehen.

Mir ist die Zielgruppe auch nicht ganz klar. Ist der AZ959-5d3 ein Gerät für den ambitionierten Amateur oder für den professionellen Anwender?

Dilb Erdmann lief rot an. AZ956-5d3, nicht AZ959-5d3! Das ist ein absolutes Profigerät! Nichts für Amateure, sondern für den harten Einsatz. Wenn Sie etwas für Heimanwender suchen, sollten Sie lieber den AZ959-5d2 nehmen. Das ist doch völlig klar.

Ich finde die Bezeichnungen auch verwirrend. Warum haben die Geräte keine einfachen Namen wie bei diesem Möbelhaus mit dem Elch? Die kann man sich leicht merken und es wirkt viel sympathischer. Das war die Stimme der jungen Frau. Die anderen Anwesenden wandten ihr kurz ihre Köpfe zu und bedachten sie mit bösen Blicken. Sie hatte hier überhaupt nichts zu sagen. Die junge Frau verstand und schwieg. Sven Sommer fand die Idee allerdings gar nicht so schlecht.

Der AZ959-5d2 ist auf dem Markt so gut wie unbekannt. Wir machen keine Werbung dafür. Mit dem unterdimensionierten Etat ist das nicht zu bewerkstelligen. Max Xenon sah anklagend in die Runde.

Wir haben den Fokus bisher immer auf die Profis gelegt, sagte Sven Sommer. Eine Strategieänderung steht derzeit nicht zur Debatte. Ich möchte primär wissen, warum sich der AZ956 — Er blickte auf den Prospekt — 5d3 so schlecht verkauft? Was kann die Konkurrenz besser? Was wünschen unsere Kunden?

Der AZ956-5d3 ist unser bestes Gerät überhaupt. Da kann die Konkurrenz in keinster Weise mithalten. Sehen Sie sich nur einmal diese Feature Comparison an. Dilb Erdmann hielt triumphierend ein Blatt Papier in die Luft, auf dem sich eine umfangreiche Tabelle befand. Niemand im Raum konnte Details erkennen, niemand wollte sich auf eine technische Diskussion mit Dilb Erdmann einlassen. Zufrieden legte der Ingenieur das Blatt zurück auf den Tisch.

Ich hatte letzte Woche mehrere Gespräche mit den Einkaufsleitern einiger Großkunden. Sie waren allesamt hoch zufrieden und von der Funktionalität unserer Produkte beeindruckt. Max Xenon unterstrich mit diesen Worten seine erstklassige Arbeit.

Das ist wahr, bekräftigte Friedrich Edelmann, der PR-Manager. Keiner unserer Kunden beschwert sich. Wir haben einen sehr guten Ruf und stehen glänzend dar.

Sven Sommer wunderte sich. Alles gut, Friede, Freude, Eierkuchen, aber die Verkaufszahlen sprachen eine andere Sprache. Das paßte nicht zusammen. Er dachte an sein Erlebnis mit dem Fahrkartenautomat. Erging es den Anwendern seiner Produkte vielleicht ähnlich? Er beschloß nachzuhaken.

Was sagen denn die Benutzer?

Benutzer?

Ja, Benutzer, Anwender, die Leute, die unsere Produkte täglich bedienen.

Wie ich schon sagte, die Einkaufsleiter

Nein, nicht die, die Anwender!

Die Anwender entscheiden im allgemeinen nicht darüber, was gekauft wird.

Und wenn doch? Was ist mit den kleineren Firmen? Wir verkaufen doch auch viel an kleinere Firmen?

Ich glaube nicht, daß Anwender ein Mitspracherecht haben; gut, vielleicht bei den Kleinen, aber zu denen habe ich nicht so gute Kontakte. Wissen Sie, die Betreuung eines Kleinkundens erfordert ähnlich viel Aufwand wie die eines Großkundens. Ich muß mich auf die wichtigen konzentrieren. Das Thema wurde Max Xenon unangenehm.

Herr Xenon hat völlig recht, bekräftigte Friedrich Edelmann.

Sven Sommer schaute zu Dilb Erdmann. Der Ingenieur war in irgendwelche Unterlagen vertieft und offensichtlich nicht ansprechbar. Sven Sommer seufzte leise. Diese Leute würden ihm nicht weiterhelfen.

Der Rest des Vormittags verging in fruchtloser Diskussion. Max Xenon bestand auf einer neuen Marketingkampagne. Dilb Erdmann glaubte, ein neues Modell mit erweiterter Funktionalität würde den Erfolg zurückbringen und der Controller machte mehrfach darauf aufmerksam, daß man, statt mehr zu verkaufen, auch Kosten reduzieren könne, um den Gewinn zu steigern.

6.2 Mittagspause

Irgendwann rief Herr Sanders die Mittagspause aus. Die Anwesenden eilten nach draußen. Sven Sommer und Herr Sanders blieben zurück.

Ich habe mich schon darauf gefreut, mal wieder in Ihrer Kantine zu speisen.

Ich fürchte, das ist nicht so einfach. Herr Sanders blickte zu Boden.

Wieso?

Wir haben auf elektronische Essenskarten umgestellt. So einfach können Sie dort nicht mehr essen.

Dann geben Sie mir einfach so eine Karte.

Das geht nicht. Wir haben noch keine Gästekarten. Das ist alles ganz neu. Dieses Geständnis war Herrn Sanders ausgesprochen peinlich.

Sven Sommer konnte nicht glauben, was er da hörte. Dann essen wir einfach außerhalb.

Ich habe beim Essen noch eine wichtige Verabredung. Entschuldigen Sie bitte.

Schon gut, ich werde schon nicht verhungern. Sven Sommer machte sich auf den Weg nach draußen. Irgend einen Imbiß würde es da schon geben, obwohl ihm die Besprechung schwer im Magen lag. Was sollte er tun? Er hatte das Bedürfnis, mit irgend jemandem über die Situation zu reden. Gedankenverloren zückte sein Handy und wählte die Nummer von Mira Kell.

Hallo, Herr Sommer! Wie geht es Ihnen?

Ich komme gerade aus einer Besprechung, alle Leute streiten sich, jetzt ist Mittag und ich kann nicht in die Kantine, weil das nur mit einer elektronischen Essenskarte geht.

Das tut mir leid. Konnte denn kein Anderer mit für Sie abrechnen?

Er schwieg einen kurzen Augenblick. Was war er doch für ein Trottel. Sie werden es kaum glauben, aber daran hat niemand gedacht.

Vielleicht waren Sie zu sehr in ein anderes Thema vertieft. Oder haben Sie etwa lange Zeit ohne Pause durchgearbeitet? Das Konzentrationsvermögen eines Menschen läßt bereits nach einer Dreiviertelstunde merklich nach. Sie können sich vorstellen, was das für die Qualität der Arbeit bedeutet.

Schon gut, ich bin frustriert genug. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir einige Ratschläge geben, zum Beispiel, warum sich alle Leute streiten?

Was sind das für Leute?

Mitarbeiter aus verschiedenen Bereichen. Wir haben zur Zeit ein paar kleine Probleme und ich hatte gehofft, wenn sich alle an einen Tisch setzen, kämen wir zu Lösungen. Sie wissen schon, wegen der Synergieeffekte.

Wie gut kennen sich die Leute untereinander?

So gut wie gar nicht. Wir sind heute zum ersten Mal in dieser Form zusammen.

Dann ist die Streiterei völlig normal.

Wieso?

Der Mensch ist ein zutiefst soziales Lebewesen und definiert sich oft über die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. Evolutionsgeschichtlich umfaßten diese Gruppen etwa 20 bis 30 Personen und standen in Konkurrenz zueinander. Stellen Sie sich ein Unternehmen als Gebiet vor, in dem verschiedene Indianerstämme hausen (Abbildung 20) [20]. Das sind die unterschiedlichen Unternehmensabteilungen. Diese Abteilungen kämpfen untereinander um Geld und Einfluß.


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Abbildung 20: Verschiedene Abteilungen eines Unternehmens als Indianerstämme, die sich gegenseitig bekämpfen. Von Zeit zu Zeit zieht ein Wunderdoktor (Unternehmensberater) durch das Gebiet.


Wir haben auch einen Unternehmensberater in der Runde.

Das ist ein Wunderdoktor, der den Leuten Medizin verkauft. Im Wilden Westen nannte man das Quacksalber.

Sven Sommer dachte nach. Wenn die Abteilungen in Konkurrenz zueinander standen, wurde ein beträchtlicher Teil der Energie auf innerbetriebliche Grabenkämpfe verschwendet. Keine schönen Aussichten.

Ist es wirklich so schlimm? frage er.

Es ist sogar sehr schlimm. Sie können die verschiedenen Stämme oft schon an ihrer Sprache unterscheiden. Häufig gibt es interne Schmähbezeichnungen für die anderen Gruppen, beispielsweise Krawattenträger, Marketing-Fuzzis, Web-Daddler und Codierschweine. Jeder Stamm besitzt seine eigene Fachsprache. Im Marketing ist es nicht ungewöhnlich, daß ein derart starkes Denglisch gesprochen wird, das selbst der Kunde nichts mehr versteht.

Dann gibt es die vielbeschworenen Synergieeffekte überhaupt nicht?

Doch, die gibt es. Gemischte Teams leisten mehr als Monokulturen, weil verschiedenste Aspekte in die Arbeit einfließen können. Aber gute Teams fallen nicht vom Himmel. Menschen aus verschiedenen Stämmen brauchen Zeit, um sich aneinander zu gewöhnen. In der Anfangsphase sind Streitereien an der Tagesordnung. Sie hielt kurz inne. Im Zirkus gewöhnt man verfeindete Raubtiere aneinander, indem man die Käfige langsam immer weiter zusammenstellt.

Und der Kunde?

Der Kunde besitzt keine Lobby im Unternehmen.

Da muß ich widersprechen. Wir sind ein stark kundenorientiertes Unternehmen. Unsere Kunden beschweren sich nicht. Die sind hochzufrieden.

Kunden beschweren sich nur relativ selten. In den meisten Fällen wechseln sie irgendwann klammheimlich das Produkt. Im Bereich der Usability ist es sogar so, daß Kunden sich nicht beschweren, weil sie glauben, sie seien zu dumm, wenn sie mit irgend etwas nicht zurechtkommen. Schließlich wurden die Produkte von Fachleuten entwickelt.

Die Kunden trauen sich nicht, sich zu beschweren?

Das ist nur ein Aspekt. Hinzu kommt, daß sie glauben, es ändere sich ohnehin nichts, falls sie sich beschweren. Also erzählen sie in ihrem Bekanntenkreis, wie schlecht ein Produkt ist, aber der Hersteller erfährt nichts davon.

Aber das ist ja schlimm. Sven Sommer dachte kurz nach. Könnte es sein, daß unsere Produkte eine schlechte Usability aufweisen, aber niemand in der Firma davon weiß? Er stutzte und verwarf den Gedanken wieder. Blödsinn, Dilb Erdmann, mein bester Ingenieur, müßte das doch wissen. Der Mann ist ein halbes Genie.

Mira Kell seufzte. Sagen Sie das nicht. Das ist einer der Gründe, weshalb es Usability-Experten so schwer haben. Viele Menschen glauben, Benutzbarkeit wäre trivial und die Produktentwickler hätten alles im Griff, aber das ist nicht der Fall. Gerade Ingenieure orientieren sich viel mehr an der Technik als am Menschen. Es ist sehr schwer zu verstehen, warum ein Konzept, das man selbst entworfen hat, für andere Menschen undurchschaubar bleibt. Letztendlich entscheidet immer der Anwender. Führen Sie Usability-Tests durch?

Usability-Tests? fragte Sven Sommer. Seine Gedanken gingen zum eben Gehörten zurück. Was hatte Mira Kell gesagt? Usability-Experten haben es schwer? Das war das erste Mal, daß sie ihm gegenüber ihre persönlichen Sorgen erwähnte, jedenfalls erschien es ihm so. Er hielt das für ein gutes Zeichen.

In einem Usability-Test testen Anwender ein Produkt. Das Ergebnis zeigt, wie gut es um die Benutzbarkeit bestellt ist.

Ich habe soeben zum ersten Mal davon gehört. Ich müßte den Erdmann fragen. Ich frage mich jetzt, warum eben in der Besprechung niemand kritische Punkte angesprochen hat.

Na hören Sie mal, auch heute noch wird der Überbringer schlechter Nachrichten geköpft.

Aber ich bin doch ein vernünftiger Mensch. Mit mir kann man offen reden.

Menschen sind zutiefst hierarchische Lebewesen und in einer Hierarchie fließen die Informationen von oben nach unten. Es ist immer gefährlich, im Beisein von Vorgesetzten Kritik zu üben. Niemand möchte seine Karierre gefährden. Zu den Aufgaben eines Unternehmensberaters gehört es auch, die Chefs über das wahre Klima im Unternehmen zu informieren.

Sven Sommer schwieg. Vielleicht hatte sie recht, auch wenn er es auf seine Firma bezogen nicht glaubte. Ich würde diese Sache mit der Usability gerne näher mit Ihnen besprechen. Vielleicht können Sie mir weiterhelfen?

Ich bin heute abend in Hohenberg. Falls Sie Lust haben, können wir uns dort treffen.

Das paßt mir sehr gut. Ich übernachte im Hotel Kognito. Wir könnten zusammen Essen gehen. Ich glaube nicht, daß ich heute mittag noch etwas Ordentliches in den Magen bekomme.

Einverstanden. Das Hotel ist mir bekannt. Ich hole Sie gegen sieben Uhr ab.

Gut. Jetzt muß ich etwas zu essen finden. Bis heute abend.

Bis heute abend.

Jetzt fühlte er sich etwas besser. Einige Meter weiter befand sich ein kleiner Bäcker, goldgelbe Croissants krümmten sich ihm verführerisch entgegen. Er bestellte ein paar Croissants und einen Kaffee.

Kaffee haben wir nur am Automaten! Die Verkäuferin deutete resolut in eine Ecke, die von einem dunklen Automaten dominiert wurde.

Sven Sommer näherte sich, nur mit seinen Croissants bewaffnet, vorsichtig dem Gerät. Schon aus mehreren Metern Entfernung fielen zwei Blätter Papier auf, die jemand nachträglich auf den Automaten geklebt hatte. Automat gibt kein Wechselgeld! stand auf dem einen, Anleitung auf dem anderen. Er studierte die Gebrauchsanweisung:

Das ist wieder typisch, dachte Sven Sommer. Keine Spur von Kundenorientierung. Währenddessen suchte er in seinem Portemonnaie nach passendem Kleingeld. Das war gar nicht so einfach mit den Croissants in der Hand, aber es befand sich keine Ablagemöglichkeit in der Nähe. Mit den Croissants in der einen und dem Kleingeld in der anderen Hand mußte er nun den Becher unter den Hahn stellen. Doch wo waren die Becher? Seine Blicke schweiften über den Automaten; endlich, halb versteckt an der Seite, ein Becherspender.

Geht’s nicht ein wenig schneller? Wir haben nicht ewig Mittagspause. Zwei stämmige Herren in verdreckten Arbeitsanzügen warteten ungeduldig.

Bitte bedienen Sie sich. Sven Sommer trat zur Seite und verließ entnervt das Geschäft. Kaffee würde er auch in der Firma bekommen.

Draußen begann er nachzudenken. Was war falsch an diesem Automaten? Die nachträglich aufgeklebte Gebrauchsanleitung war ein starkes Indiz dafür, daß viele Menschen Probleme mit dem Gerät hatten. Und dann nur passendes Geld annehmen, eine Zumutung. Die versteckten Becher, Mira Kell würde das wohl fehlende Transparenz nennen. Zucker und Milch vorher wählen, weshalb? Er kannte viele Automaten, bei denen es anders war. Dieses Verhalten wich vom Standard ab und war nicht vorhersehbar. Was mochte passieren, wenn ein Kunden Zucker und Milch nach dem Getränk auswählte? Fehlertoleranz war den Entwicklern wohl unbekannt? Würde die Bäckerei noch einmal einen Automaten von der gleichen Firma kaufen? Wohl kaum.

Ein Zeitungsständer verbaute ihm den Weg. Sven Sommers Blick streifte über den Inhalt. So ein Mist! Der DAX war gefallen. Was war mit seinen Aktien? Er schaute genauer hin (Abbildung 21).


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Abbildung 21: Der obere Teil des Bildes zeigt, wie die Entwicklung verschiedener Börsenindizes in einer deutschen Zeitung dargestellt werden. Die Farbe Rot suggeriert einen Abfall, obwohl der DAX steigt. Im unteren Teil des Bildes steht Grün für steigend, Gelb für gleichbleibend und Rot für fallend. Damit auch Personen mit Rot-Grün-Schwäche die Farben wahrnehmen können, wurden Mischfarben statt reiner Farben verwendet.


Ein roter Kreis zeigte die Entwicklung des DAX. Darin befand sich ein Pfeil. Er wies nach oben! Der DAX war also gar nicht gefallen, sondern gestiegen, aber die Farbe Rot hatte einen Abfall suggeriert. Sven Sommer schüttelte verständnislos den Kopf. Von einer Zeitung hatte er erwartet, daß sie wüßten, daß Rot eine Warnfarbe ist. Er überflog die anderen Artikel: Neuer Supermarkt eröffnet …besondere Aufmerksamkeit wurde der Barrierrefreiheit gewidmet …Zusammenarbeit mit Behindertenverbänden …besondere Markierungen für Blinde. Das klang interessant. Er mußte heute abend ohnehin noch ein paar Kleinigkeiten einkaufen. Wenn er sich diesen Supermarkt ansah, würde er auch Mira Kell beeindrucken.

Langsam schlenderte er zurück in die Firma. Als er sich durch die monotonen grauen Korridore Richtung Besprechungsraum bewegte, vernahm er plötzlich ein lautes Fluchen.

Verdammtes Mistding!

Vorsichtig spähte er in das Büro, aus dem das Fluchen kam. Die junge Frau saß mit hängenden Schultern vor einem Rechner. Ihre Blicke schienen die Tastatur zu durchbohren. Sie wirkte geistig abwesend.

Was ist denn passiert? Sven Sommer machte einen Schritt in das Büro.

Die Tastatur! Ich komme nicht damit zurecht!

Haben Sie denn keine Erfahrung im Umgang mit Computern? fragte er mit einem leise tadelnden Unterton.

Sie blickte ihn mit böse funkelnden Augen an. Natürlich habe ich das. Schließlich habe ich das gelernt. Aber das hier, das ist einfach Mist! Sie zeigt mit ausgestrecktem Finger auf die Stelle der Tastatur, an der sich die Cursortasten befanden. Immer, wenn ich mit dem Cursor irgendwohin springen will, erwische ich die falsche Taste!

Sven Sommer trat näher heran und betrachtete die Tastatur (Abbildung 22, links), konnte aber nichts besonderes entdecken, die linke und die rechte Pfeiltaste nebeneinander, darüber die Nach-Oben-Cursortaste, darunter die Nach-Unten-Taste. Eine klare intuitive Anordnung, schien es ihm.


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Abbildung 22: Verschiedene Anordnungen von Cursortasten auf einer Computertastatur. Auf den ersten Blick erscheint die linke Anordnung intuitiver, aber die rechte erlaubt es, drei Finger zu benutzen und vermeidet häufiges Umgreifen. Sie entspricht dem heutigen Standard.


Das ist nicht das Standardlayout. Sehen Sie, hier. Sie griff nach einem Kugelschreiber und malte einige Tasten auf ein Blatt Papier (Abbildung 22, rechts). Normalerweise liegen die Nach-Oben- und Nach-Unten-Tasten in der Mitte, links und rechts davon die Nach-Links und die Nach-Rechts-Tasten.

Unschlüssig starrte Sven Sommer auf das Papier. Das sollte besser sein? Sie meinen, Sie kommen nicht damit zurecht, weil Sie die andere Anordnung erlernt haben? fragte er unsicher.

Nicht nur das! Sehen Sie hier. Die junge Frau legte drei Finger auf ihre Zeichnung, den Zeigefinger auf die linke Taste, den Ringfinger auf die rechte Taste und der Mittelfinger bedeckte die Tasten für auf und ab. So kann ich den Cursor schnell und bequem steuern. Mit der anderen Anordnung geht das nicht. Sie legte zwei Finger auf die Tastatur und demonstrierte, wie sie ständig umgreifen mußte, um den Cursor zu bewegen.

Er begriff. Dieses Layout besitzt in der Tat eine schlechte Usability.

Sie blickte ihn fragend an.

Diese Tastatur ist schlecht zu bedienen. Die Designer haben sich nicht am Anwender orientiert.

Das sage ich doch die ganze Zeit. Diese überstudierten Ingenieure denken nie an uns einfache Angestellte.

Dann sagen Sie doch Herrn Sanders, daß Sie eine andere Tastatur benötigen.

Das würde ich niemals tun. Vielleicht hält er mich dann für dumm.

Sie sollten etwas mehr Mut haben. Eine offene Kommunikation ist wichtig für den Erfolg eines Unternehmens.

6.3 Projektplanung

Sven Sommer verließ das Büro. So war das also. Hatte Mira Kell nicht Ähnliches gesagt? Anwender glauben, sie seien zu dumm. Er hatte soeben eine zweite Variante entdeckt: Anwender sagen nichts, weil sie glauben, daß andere sie für dumm halten könnten. Er nahm sich vor, mit Mira Kell darüber zu sprechen und ging langsam zum Besprechungsraum. Dort saß bereits Dilb Erdmann.

Führen wir eigentlich Usability-Tests durch?

Dilb Erdmann blickte ihn ungläubig an. Usability?

Ja, Usability, Benutzbarkeit.

Ach so, davon habe ich gehört, irgend so ein Psychologen-Zeug. Glauben Sie nicht, daß wir so etwas besser können als diese Theoretiker? Schließlich haben wir jahrelange Erfahrung mit Neuentwicklungen. Unsere Kunden sind zufrieden. Die beschweren sich nicht.

Bevor Sven Sommer antworten konnte, betraten Herr Sanders und seine Leute den Raum. Hinter ihnen ein neues Gesicht, Felix Hummel, der neue Projektleiter. Felix Hummel arbeitete erst seit kurzem in der Firma. Er besaß erstklassige Referenzen und hatte auf seiner letzten Stelle alle ihm übertragenen Projekte zum Erfolg geführt. Er war jung und dynamisch. Jetzt war er für die Neuentwicklung zuständig. Heute würde er über den aktuellen Projektplan referieren.

Von dem habe ich gehört. Der hat immer nur halbe Sachen abgeliefert und die Verantwortung später auf das Marketing abgewälzt.

Friedrich Edelmann hatte leise zu Max Xenon gesprochen, aber Sven Sommer waren diese Worte nicht entgangen. Felix Hummel überreichte jedem der Anwesenden einen Stapel Papier.

Das ist die Aktivitätenliste für den neuen AZ916-5d3, erklärte er feierlich.

Die Beschenkten begannen, in dem Stapel zu blättern. Auf jedem Blatt Papier stand eine Aktivität, die Beschreibung der Aufgaben, die Verantwortlichen und eine Zeitschätzung. Felix Hummel war fleißig, das mußte man ihm lassen.

Früher hat das auf ein Din-A4-Blatt gepaßt, maulte Dilb Erdmann.

Herr Erdmann, früher haben sich die Geräte schlecht verkauft. Wir müssen jetzt methodisch vorgehen, wies der Projektleiter ihn zurecht. Außerdem benötige ich von Ihnen noch eine Zeitschätzung für die Aktivität A35.

Die Anwesenden suchten in ihren Stapeln hektisch nach der Aktivität A35.

A35? fragte der Ingenieur zurück, als er die Aktivität nicht sofort fand.

Jawohl, A35. Herr Erdmann, haben Sie sich etwa noch nicht mit dem Projektplan vertraut gemacht?

Dilb Erdmann hatte endlich A35 gefunden. Das ist der Prototyp für die neue Fernsteuerung. Warum steht da nicht einfach Prototyp Fernsteuerung statt A35?

Lenken Sie bitte nicht vom eigentlichen Thema ab. Ich benötige noch eine Zeitschätzung von Ihnen.

Ich kann Ihnen keine Zeitschätzung geben. Wir haben bisher keinerlei Erfahrung mit der Entwicklung von Fernsteuerungen. Das ist unsere erste.

Herr Erdmann. Ohne Termine gibt es keinen Projektplan und ohne Projektplan keinen Erfolg. Wir müssen professionell vorgehen, wie in der Architektur. Nehmen Sie sich ein Beispiel an den Architekten!

Ich verstehe nicht, warum wir die krisengeschüttelte Baubranche als Vorbild nehmen sollen? Da sind doch Pleiten an der Tagesordnung. Die junge Frau mit dem Kaffee befand sich wieder im Zimmer. Mit unsicherer Stimme fuhr sie fort: Mein Vater ist Architekt. Der sagt immer, die Architektur ist eine mehrtausendjährige Geschichte von Fehlschlägen. Von der Knickpyramide des Snofru bis zur modernen Glasfassade. Diese Fassaden sind nämlich wahre Energiefresser. [19]

Sie verstummte. Alle Anwesenden starrten sie entgeistert an. Herr Sanders schüttelte mißbilligend langsam mit dem Kopf. Diese Frau kannte ihre Grenzen nicht. Vielleicht würde er sie freisetzen müssen. Der Projektleiter fixierte sie mit seinen Blicken an der Wand:

Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?

Ich bin die neue kaufmännische Angestellte. Sie sah sich hilfesuchend in der Runde um.

Ah, und deshalb glauben Sie, für Projektleitung qualifiziert zu sein?

Ich …ich Sie versuchte, Sven Sommer in die Augen zu sehen, ihr Blick flackerte. Zitterte sie etwa? Herr Sommer hat mir gesagt, daß …offene Kommunikation

Sven Sommer fuhr ein Schauer über den Rücken. Das stimmte, er hatte ihr zu offener Kommunikation geraten und sie hatte das ernst genommen. Nicht zu fassen! Er mußte eingreifen.

Ich finde, die junge Dame hat völlig recht. Wenn wir Synergieeffekte nutzen wollen, müssen wir die Meinung jedes Mitarbeiters berücksichtigen. Offene Kommunikation ist das Gebot der Stunde.

Zustimmendes Gemurmel, sie warf ihm einen schnellen dankbaren Blick zu und schlich sich aus dem Diskussionsraum.

Ich bin ganz Ihrer Meinung, Herr Sommer! bekräftigte der Projektleiter. Wir müssen das Potential aller Mitarbeiter nutzen! Er wendete sich wieder Dilb Erdmann zu. Wie ich bereits ausgeführt habe, müssen wir professionell vorgehen. Herr Erdmann, Ihre Zeitschätzung?

Der Ingenieur wand sich auf seinem Stuhl. Ich schätze, daß wir etwa vier Monate benötigen werden.

Vier Monate? Der Projektleiter setzte ein Gesicht des Erstaunens auf. Wir müssen dieses Jahr noch fertig werden. Bedenken Sie den Liefertermin.

Drei Monate, wenn es sein muß, resignierte Dilb Erdmann.

Das ist gut. Damit bleiben wir im Zeitplan. Sie sind für A35 verantwortlich, Herr Erdmann!

Sven Sommer begann, an den Fähigkeiten des neuen Projektleiters zu zweifeln. Vielleicht sollte er ihm die Wahrnehmung anderer Karrierechancen ermöglichen und ihm ein erstklassiges Zeugnis ausstellen? Solche Leute waren bei der Konkurrenz gut aufgehoben. Er schmunzelte.

Der Rest des Nachmittages verging zäh. Der Projektleiter las sämtliche Aktivitäten vor, von A1 bis A49, wobei er auf sechs Kernaktivitäten näher einging und auf Pausen verzichtete. Die Diskussionsteilnehmer dösten gelangweilt vor sich hin. Einige versuchten zumindest, einen interessierten Gesichtsausdruck aufzusetzen, scheiterten jedoch spätestens bei Aktivität 42.

Am Ende der Besprechung dankte Herr Sanders allen für die gute Zusammenarbeit. Die Teilnehmer verabschiedeten sich höflich. Dilb Erdmann murmelte noch irgend etwas, das wie Am Ende ziehen doch wieder ein paar motivierte Mitarbeiter den Karren aus dem Dreck klang und schlich von dannen.