5 Stadtrundfahrt

Sven Sommer ging einige Schritte über den Bahnhofsplatz und versuchte, sich zu orientieren. Er blickte sich um. In der Nähe ein Taxistand, dahinten einige Bushaltestellen und da — ein Mann mit einem langen weißen Stock eilte zielstrebig Richtung Bahnhof.

Das gibt’s doch nicht, murmelte Sven Sommer zu sich selbst. Wie konnte sich ein Blinder dort zurechtfinden, wo ein Manager halb orientierungslos in der Gegend stand?

Er beschloß, sich erst einmal Richtung Bushaltestelle zu begeben, obwohl er sich nicht sicher war, ob er noch einmal das Abenteuer der öffentlichen Verkehrsmittel auf sich nehmen sollte.

Ein paar Meter weiter kreuzte er den Weg, den der blinde Mann genommen hatte. Mira Kell hatte von kleinen Hinweisen gesprochen, um den Anwendern die Bedienung zu erleichtern. Konnte es sein, daß sich der Blinde an Hinweisen orientierte, die für Sven Sommer nicht auffällig waren? Er sah nach unten. Tatsächlich! Auf dem Boden waren in kurzen Abständen kleine tastbare Markierungen angebracht. Eine kleine Woge des Stolzes erfüllte ihn. Er hatte das Rätsel gelöst.


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Abbildung 7: Vereinfachtes Wabentarifsystem für den Nahverkehr. Können Sie auf Anhieb sagen, welche Tarifstufe für eine Fahrt von Tiefental nach Hohenberg gilt? Könnten Sie das auch noch sagen, wenn Sie es mit vielen Waben und vielen möglichen Fahrtstrecken zu tun hätten? Wie werden ausländische Besucher reagieren, die die deutsche Anleitung nicht lesen können?


Auf zum nächsten. Frohen Mutes strebte Sven Sommer auf eine große Anzeigetafel zu. Dort mußte der Busplan hängen. Das konnte ja nicht so schwer sein. Der erste Blick auf den Plan belehrte ihn eines besseren (Abbildung 7). Der Umgebungsplan war von einem Wabenmuster überdeckt. Zählen Sie die Anzahl der durchfahrenen Waben, um die Tarifstufe zu erhalten, stand auf dem Plan.

Sven Sommer versuchte es. Zuerst mußte er anhand des Planes die Fahrtstrecke finden. Das war nicht ganz einfach. Schließlich gab es unzählige Verbindungen. Die Strecke über Schinkenburg schien die kürzeste. Hohenberg lag in der Nachbarwabe von Tiefental. Also mußte er nur eine Wabe durchfahren, oder? Doch halt! Die Strecke ging über Schinkenburg und das lag in einer anderen Wabe. Mußte er etwa für den Umweg auch bezahlen? Er wollte ja gar nicht nach Schinkenburg. Und was war mit durchfahrenen Waben gemeint? Er fuhr ja nur durch die Schinkenburg-Wabe. Die anderen berührte er nur, aber er fuhr nicht ganz durch. Also eine Wabe? Irgendwie erschien ihm das unlogisch, denn er mußte über zwei Wabengrenzen fahren. Tarifstufe 2? Dann würde aber eine Kurzstrecke innerhalb einer Wabe gar nichts kosten. Kaum zu glauben. War etwa die Anzahl der berührten Waben gemeint? Dann wären es drei.

So verliert man Kunden, dachte er. Wer es den Kunden schwermacht, verliert Marktanteile. Er sah sich spontan als einen Marktanteil, ein kleiner zwar, aber ein Marktanteil. Er grinste und verließ die Bushaltestelle.

Erst jetzt sah er das fröhlich leuchtende Schild der Autovermietung. Glück gehabt! Einen Wagen würde er ohnehin noch brauchen können.

Wie ist das eigentlich in anderen Städten? überlegte er. Schließlich war er auch früher schon Bus gefahren und hatte nie solche Probleme gehabt. Er kramte in seiner Erinnerung. Vor seinem geistigen Auge entstand ein Ringsystem (Abbildung 8). Im Ringsystem lagen alle Zielorte in breiten Ringen. Je weiter weg, desto teurer. Das erschien ihm logisch. Jeder Ring entsprach einem Fahrpreis. Das war einfacher.


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Abbildung 8: Vereinfachtes Ringtarifsystem für den Nahverkehr. Ringtarifsysteme sind besonders für die Benutzer im Zentrum einfach.


Schwierig wurde es, wenn man sich nicht im Zentrum befand oder das Fahrziel weit entfernt war, aber im gleichen Ring gelegen. Dann ging auch hier das Rätselraten los.

Vor einigen Jahren hatte er Urlaub in Korea gemacht, ein unglaublich schönes Land. In Seoul stand der Fahrpreis immer direkt hinter dem Fahrziel (Abbildung 9); kein Raten, kein Rechnen, kein Lesen von Anleitungen. Warum war so etwas nicht in Deutschland möglich?


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Abbildung 9: Tarifsystem, wie man es in Seoul oder Tokio findet. Der Fahrpreis steht direkt hinter dem Fahrziel. Dieses System ist besonders einfach, benötigt allerdings für jede Station eine eigene Karte mit den jeweils gültigen Preisen.


Wenige Minuten später saß Sven Sommer in seinem Mietwagen. Autos sind einfach praktisch, überlegte er. In jedem Wagen findet man sich sofort zurecht. Ganz anders als bei den öffentlichen Verkehrsmitteln, die in jeder Stadt anders funktionieren. Da muß man jedesmal neu lernen. Wer will sich das schon antun?

Er gab Gas. Endlich frei! Er konnte fahren, wohin er wollte. Leise schnurrend bewegte sich der Wagen durch die Stadt. Eine kleine Drehung am Lenkrad und das Auto reagierte folgsam. Sven Sommer atmete auf. Er hatte die Kontrolle zurückgewonnen.

Piep, Piep, Piep! Ein unangenehmer Ton erfüllten den Innenraum und verdränge jegliche Behaglichkeit. Sven Sommer fluchte. Was war jetzt schon wieder los? Hatte er nicht ein bißchen Ruhe verdient? War das Leben nicht schwer genug? War das ein Abstandswarner? Der Wagen war jetzt ein ganzes Stück weiter gerollt und es piepte noch immer. Hing etwa ein Fußgänger an der Stoßstange? Er hielt an. Hupen hinter ihm! Was tun?

Da! Eine Leuchte am Armaturenbrett. Also kein Fußgänger! Weiterfahren. Lichthupe hinter ihm. Er schaute in den Rückspiegel. Aufgeregt wirbelnde Arme im anderen Wagen, der Mund weit aufgerissen, eine Fratze wie aus einem Urzeitfilm.

Arschloch! dachte Sven Sommer. Was für ein Psychopath! Der sieht doch, daß ich Probleme habe. Er wandte sich dem unbekannten Symbol auf dem Armaturenbrett zu. Es leuchtete rot.

Die Handbremse! durchfuhr es ihn. Wie konnte er das nur vergessen? Ein Griff und die rote Leuchte erlosch.

Ein ohrenbetäubendes Brüllen erschütterte den Innenraum! Sven Sommer trat vor Schreck auf die Bremse. Verkehrsfunk! Eines von diesen Radios, die sich automatisch anschalteten. Der Vormieter mußte taub gewesen sein. Hinter ihm Hupen in allen Variationen.

Sound and light, what a delight. Sven Sommer lächelte grimmig. Was für eine absurde Situation. Er suchte das Autoradio. Oh nein! Eines von diesen integrierten, dessen Schalter über den ganzen Innenraum verstreut waren. Welche Schalter mochten für das Radio zuständig sein? Sein Blick fiel auf eine lange Reihe von Schaltern, die aufgereiht waren wie Soldaten beim Morgenapell und genauso gut voneinander zu unterscheiden! Die ständige Benutzung hatte die Beschriftungen unkenntlich gemacht und jegliche Unterschiede getilgt. Sie sahen alle gleich aus.

Er drückte probeweise auf den ersten Schalter. Nichts! Der Schalter bewegte sich nicht. Es handelte sich um eine Attrappe. Irgend ein Ingenieur hatte wohl eine Blindleiste mit Schalterformen ersonnen, damit neue Schalter nachträglich leicht eingebaut werden konnten. Gut für den Monteur, schlecht für den Kunden.

Sven Sommer tastete über die Leiste und schaute auf das Display, in der Hoffnung, einen Hinweis zu finden. Vergeblich! Das Display ließ sich im hellen Tageslicht nicht ablesen. Er wunderte sich. Noch vor wenigen Jahren gab es Displays, die bei hellem Umgebungslicht gut abzulesen waren. Warum jetzt nicht mehr? Wurde in den Entwicklungsabteilungen beim Licht gespart? Unwillkürlich stellte er sich Ingenieure vor, die in dunklen Laboren ihrer Arbeit nachgingen. Blasse Gesichter, die jeden Sonnenstrahl meiden mußten. Seine Laune hellte sich wieder auf. Da war er doch weit besser dran. Er beschloß, das Radio zu ignorieren und trat aufs Gas.

Schon nach kurzer Fahrt wurde Sven Sommer sich des nächsten Problems bewußt. Das Navigationssystem ließ sich nicht bedienen, weil das Display nicht abzulesen war. Wäre es sonst eine Hilfe gewesen? Er wußte es nicht. Mit seinem eigenen war er nie zurechtgekommen. Also hieß es, nach Schildern Ausschau zu halten. Er hatte ein dunkle Ahnung, was gleich passieren würde.

Verpaßt! Er hatte die Ausfahrt verpaßt. Seine Ahnung hatte ihn nicht getrogen. Aus ihm unbekannten Gründen standen Schilder immer erst an der Abzweigung, also so, daß es zu spät war, sich sicher einzuordnen. Sven Sommer fluchte. Er würde noch zu spät kommen. Die nächste Abzweigung kam schon in Sicht. Vielleicht konnte er dort noch abbiegen. Er steuerte den Wagen mit hoher Geschwindigkeit in die Kurve. Das elektronische Stabilisierungssystem würde es schon richten.

Nein! Kinder auf der Fahrbahn! Er trat mit ganzer Kraft auf die Bremse. Wieso liefen die Kinder bei rot auf die Straße, direkt vor seinen Wagen? Die Reifen quietschten. Der Wagen kam unmittelbar vor den Kindern zum Stillstand. Das war noch einmal gut gegangen. Die Kinder blickten ihn mit offenen Mündern geschockt an. Sven Sommer blickte geschockt zurück. Die Kinder gingen weiter. Dabei drehten sie sich vereinzelt immer wieder um und warfen ihm anklagende Blicke zu. Er schaute ihnen nach. Die Fußgängerampel war grün. Er schüttelte leicht benommen den Kopf. Was war das? Auf der anderen Seite war die Ampel rot. Die Fußgängerampel zeigte gleichzeitig Rot und Grün für verschiedene Richtungen. Er hatte eine rote Fußgängerampel gesehen und war deswegen ungebremst in die Kurve gegangen, die Kinder hingegen hatten Grün. Sven Sommer war fassungslos. Das war ja lebensgefährlich! [16]

Wie konnte jemand auf eine derartig abstruse Idee kommen? Sven Sommer hielt kurz hinter der Ampel an und beobachtete die Ampelschaltung (Abbildung 10).


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Abbildung 10: Bei dieser Ampelschaltung bekommen Fußgänger, die von links kommen, früher Grün, als die von rechts kommenden. Während die Fußgänger von links auf dem Weg zur Straßenmitte sind, können Fahrzeuge abbiegen, weil die von rechts kommenden Fußgänger noch Rot haben. Die abbiegenden Autofahrer glauben jedoch, alle Fußgänger hätten Rot, weil sie nur die rote Fußgängerampel sehen.


Nach einiger Zeit der Beobachtung und des Nachdenkens dämmerte es ihm. Die Ampel war auf einen möglichst effizienten Verkehrsfluß getrimmt. Zuerst bekamen die Fußgänger, die von links kamen, Grün. Während sich diese in Bewegung setzten, hatten die Fußgänger auf der anderen Seite noch Rot. Also konnten Fahrzeuge die Fußgängerlücke zum Abbiegen nutzen. Erst wenn die ersten Fußgänger die Mitte der Straße erreicht hatten, bekamen auch die anderen Fußgänger Grün und die Autos mußten warten. Das Problem war, daß abbiegende Autofahrer in der ersten Phase nur eine rote Fußgängerampel wahrnehmen konnten und glauben mußten, die Fußgänger hätten Rot. Sie rechneten deshalb nicht damit, daß Fußgänger ihnen vor das Auto laufen würden. Sven Sommer war wütend. Wie konnte man Menschenleben gefährden, nur um den Verkehrsfluß etwas zu erhöhen? Er war selbst begeisterter Autofahrer, aber das ging eindeutig zu weit. Langsam fuhr er weiter.

Diesesmal hatte er Glück. Nach einigen hundert Metern wies ein Schild Richtung Autobahn. Jetzt war er wieder auf dem richtigen Weg. Manchmal führen eben alle Wege nach Hohenberg, freute er sich in Anlehnung an ein bekanntes Sprichwort. Schnell wurde er wieder ernst. Die Sitzung mit dem Vertriebspartner würde kein Zuckerschlecken werden. Sven Sommer kramte hilflos in seinen Gedanken, auf der Suche nach einem Patentrezept. Wie konnte man den Umsatz wieder ankurbeln? Wie …? Verdammt! Er befand sich auf der Abbiegerspur. Seine Fahrbahn war übergangslos zur Abzweigung geworden.

Sven Sommer fluchte. Fallensteller! Auf der einen Seite bauen sie lauter Umgehungsstraßen, um den Verkehr aus den Städten herauszuhalten, aber wenn man drin ist, kommt man nicht wieder raus. Eine Verkehrsführung wie in einem Labyrinth. Da half nur eins: Blinker raus und zurück auf die richtige Spur. Wieder einmal lautes Hupen. Warum wollte der Kerl im Wagen hinter ihm ihn nicht zurück in seine Spur lassen? Da mußte er schon etwas drängeln. Egal, der Kerl war ja schließlich selber schuld. Schon war Sven Sommer auf dem richtigen Weg. Im Rückspiegel sah er, wie der Mann hinter ihm wütend mit den Händen durch die Luft schlug. Er sollte lieber etwas defensiver fahren, dachte Sven Sommer.

Nach wenigen Kilometern hatte er die Auffahrt zur Autobahn erreicht. Sven Sommer frohlockte. Nun würde ihn nichts mehr aufhalten. Beherzt gab er Gas, um sich in die Bahn einzufädeln. Dabei mußte er feststellen, daß der Mietwagen wohl nicht ganz so stark motorisiert war wie sein eigener. Der Wagen beschleunigte nur langsam. Das Ende der Auffahrt kam ihm entgegen. Auf der Autobahn herrschte dichter Verkehr. Die Situation kam Sven Sommer irgendwie bekannt vor. Also wählte er die bewährte Lösung: Einscheren. Die anderen würden schon irgendwie Platz machen.

Nichts passierte, als er die Spur wechselte. Das erwartete Hupen blieb aus. Die Autobahnfahrer waren solche Situationen gewohnt. Warum ist die Beschleunigungsspur nur so kurz? Sven Sommer verstand das nicht. Wenn die Beschleunigungsspur zu kurz war, konnten die Autofahrer bei der Auffahrt auf die Autobahn ihre Geschwindigkeit nicht anpassen. Das war gefährlich. Erst vor kurzem war ein Autofaher mit 60 Km/h direkt vor ihm eingeschert. Das war an einer Raststätte und es gab so gut wie keine Beschleunigungsspur. Er hatte natürlich gehupt, aber das hatte auch nichts geholfen.


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Abbildung 11: Stauentstehung auf der Autobahn. Sobald der erste Fahrer bremst, bremsen die nachfolgenden etwas stärker. Dadurch verringern sich die Abstände zwischen den Autos und die Geschwindigkeiten immer weiter. Bei dichtem Verkehr entsteht ein Stau.


In seine Erinnerung drängte sich ein Artikel über Stauentstehung. Die meisten Staus entstanden ohne Unfall (Abbildung 11). Es fing damit an, daß ein Fahrer bremsen mußte, aus welchen Gründen auch immer. Sven Sommer hatte Autobahnauffahrten in Verdacht. Natürlich mußte auch er auf der Autobahn häufig bremsen, aber das lag eher daran, daß die anderen so langsam fuhren. Jedenfalls war es so, daß die folgenden Fahrer aus Sicherheitsgründen etwas stärker bremsten und die darauf folgenden wieder etwas stärker, bis schließlich einige Fahrzeuge zum Stillstand kamen. Der Stau war geboren. Deutsche Autobahnen sind einfach viel zu stark befahren. Man müßte den Verkehr reduzieren. Er dachte an Mira Kell. Was hätte sie zu den Autobahnauffahrten gesagt? Wahrscheinlich irgend etwas mit Fehlersicherheit oder so.

Mira Kell. Sie hatte ihn fasziniert. Vielleicht sollte er ihr einen kleinen Auftrag zukommen lassen? Er hatte ja ihre Visitenkarte. Verkehrsschilder zogen an ihm vorbei. Waren Verkehrsschilder ein Beispiel für gute Usability? Er dachte nach (Abbildung 12).


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Abbildung 12: Die Verkehrsschilder für Verbote, Gebote, Warnungen und Informationen unterscheiden sich in Form und Farbe. Dadurch sind sie leichter zu unterscheiden und für den Autofahrer frühzeitig zu erkennen.


Die Verkehrsschilder für Verbote, Gebote, Warnungen und Informationen unterschieden sich in Form und Farbe. Verbotsschilder waren rund mit einem roten Rand, Gebotsschilder waren auch rund, aber blau. Warnschilder hingegen waren dreieckig, wieder mit rotem Rand, Wegweiser dagegen eckig und gelb. Starenkästen waren unauffällig grau und genau genommen gar keine Verkehrsschilder, hatten aber trotzdem ihre Wirkung auf Autofahrer. Das Design der Verkehrsschilder erschien ihm sinnvoll. Auf diese Weise konnte ein Fahrer schon aus der Ferne erkennen, was ihn für ein Schild erwartete und entsprechend reagieren. Sven Sommer achtete besonders auf die runden.

Wenn das Design sinnvoll war, warum funktionierte es dann trotzdem so häufig nicht? In Städten gab es wahre Schilderwälder. Er nahm an, daß Autofahrer dadurch überfordert wurden. Menschen konnten nur eine gewisse Menge an Informationen innerhalb eines Zeitabschnitts verarbeiten. Außerdem standen Schilder oft an der falschen Stelle. Das hatte er vorhin erlebt, als die Wegweiser erst an der Kreuzung standen.

Er stellte sich vor, wie es wäre, wenn Computerspezialisten die Straßenbeschilderung entwürfen. Wahrscheinlich hätten die Hinweisschilder Sprechblasenform. Statt Schilderwäldern gäbe es herunterziehbare Rollos, auf denen Verkehrsschilder gemalt wären, ganz im Menüstil. Und es gäbe nur Einbahnstraßen. Linksabbiegen wäre generell verboten. Selbstverständlich hätte jede Stadt ihre eigenen individuell aussehenden Verkehrsschilder. Sven Sommer grinste. Vor einiger Zeit wollten sie ein Programm zur automatischen Überwachung der Produktion kaufen. Beim Testlauf stellte sich heraus, daß der zuständige Techniker die Symbole für Fehler und einwandfreie Funktion nicht unterscheiden konnte. Beide waren rund, das eine rot, das andere grün. Der Techniker war farbenblind. Programmierer sollten sich vielleicht erst einmal mit der realen Welt beschäftigen, bevor man sie an wichtige Projekte läßt.

Sven Sommer hatte sich dem allgemeinen Verkehrsfluß angepaßt. Eine Ausfahrt zog an ihm vorbei. Die Orientierung auf Autobahnen war besonders einfach. Gut, da gab es weniger Kreuzungen. Aber auch die Beschilderung war durchdacht. Immer wieder wiesen Schilder darauf hin, wie weit es bis zu den größeren Städten war. Mira Kell würde das wohl Transparenz und Vorhersehbarkeit nennen. Die Ausfahrten waren im Unterschied zu Innenstädten rechtzeitig ausgeschildert. Vor jeder Ausfahrt standen rechteckige Entfernungsmarken mit Strichen darauf, die die Entfernung bis zur Ausfahrt angaben. Darauf konnte man sich sehr gut einstellen. An der Ausfahrt selbst stand noch einmal ein Schild, das dem Autofahrer den Namen der gewählten Abfahrt bestätigte. Sven Sommer hielt dieses System für vorbildlich. Nur die Sache mit den Geisterfahrern hatten die Planer wohl noch nicht ganz im Griff.

Da kam schon seine Abfahrt. Sven Sommer staunte. Durch das viele Denken war die Zeit wie im Fluge vergangen. Hohenberg, ich komme.

Nach wenigen Kilometern unspektakulärer Landstraße erreichte er das Städtchen Hohenberg. Glücklicherweise war die Besprechung in der Nähe des Stadtzentrums und das Zentrum war leicht zu finden. Sven Sommer schaute sich suchend nach einem Parkplatz um. Hier gab es jede Menge. Kleine Städte hatten auch ihre Vorteile. Er stellte den Wagen ab und stieg aus. Sein Blick streifte ein Schild und er erstarrte. Parken nur von 16 bis 20 Uhr, stand auf dem Schild. Sven Sommer stieg wieder ein. Er hätte es wissen müssen [17].

Kurze Zeit später steuerte er den nächsten Parkplatz an. Diesesmal achtete er auf das Schild, bevor er ausstieg. Parken auf der rechten Seite nur von Di bis So, ermahnte das Schild. Die linke Seite der Straße stand voller Autos. Sven Sommer fuhr weiter. Einige Straßen später durchschaute er das System. Es gab viele freie Parkplätze in dieser Stadt, aber dort war Parken verboten. An den Stellen, wo Parken erlaubt war, standen Autos. Mißmutig steuerte er Richtung Parkhaus.

Das Parkhaus wartete in tristem Grau auf ihn. Die Einfahrt war ein dunkler Schlund, wenig einladend, aber dafür unersättlich, was die Aufnahme von zahlenden Kunden betraf. Sven Sommer mußte nach links abbiegen. Er wartete einige Momente, bis der Gegenverkehr vorbei war und fuhr hinein.

Quietsch! Sven Sommer stand auf der Bremse, der Schreck in sein Gesicht geschrieben. Gegenverkehr! In der Einfahrt! Der Fahrer im entgegenkommenden Fahrzeug rief irgend etwas und drohte mit der Faust. Sven Sommer fühlte sich versucht, eine bekannte Geste mit dem Mittelfinger seiner rechten Hand zu machen, aber ein Mindestmaß an guter Erziehung hinderte ihn daran. Was bildete sich der Kerl ein, die Einfahrt als Ausfahrt zu nutzen, und dann noch frech werden? Was konnte er tun? Aussteigen und den anderen Fahrer dazu bewegen, zurückzusetzen? Ganz schön schwierig bei der engen Einfahrt. Sven Sommer seufzte. Der Klügere gibt nach. Er setzte seinen Wagen nach hinten, hatte aber das Gefühl, daß die Klugen zu häufig nachgeben.

Der andere Fahrer zog an ihm vorbei, das Gesicht hochrot, ein sehr unpassender Kontrast zur grünen Farbe seines Wagens. Sven Sommer grinste und sah dabei wahrscheinlich nicht besonders intelligent aus. Der andere Fahrer wurde noch eine Spur röter. Sven Sommer schickte sich an, seinen Wagen wieder in den Schlund zu steuern und …blickt auf eine rote Ampel. Wie hatte er die übersehen können? [18] In diesem Parkhaus waren Einfahrt und Ausfahrt eins und wurden über eine Ampel gesteuert. Er entschied, daß er durch den Gegenverkehr abgelenkt war und deshalb nicht auf die Ampel geachtet hatte. Das Design der Parkhauseinfahrt war suboptimal.

Als die Ampel auf Grün sprang lenkte er den Wagen dennoch hinein. Die erste Kurve wurde von Wänden gesäumt, die häßliche schwarze Streifen aufwiesen, Souvenire von den Stoßfängern zahlreicher Kunden. Waren die Fahrer alle so ungeschickt oder war die Kurve zu eng? Im zweiten Fall wäre es eine Fehlkonstruktion. Sven Sommer mußte unwillkürlich an einen Parkplatz denken, auf dem die Parkwächter Schraubendreher mit sich führten, um die Wagen ihrer Kunden zu markieren. Da wäre der Protest groß, aber war es wirklich ein so großer Unterschied, ob jemand mit Absicht einen Wagen zerkratzt oder ob ein Parkhaus so konstruiert wurde, daß die Kunden das mit großer Wahrscheinlichkeit selbst tun?

Im Parhausinneren setzte sich das triste Grau der Einfahrt fort. Die einzelnen Fahrstreifen wurden durch kleine graue Betonpoller markiert, die mit reflektierenden Katzenaugen versehen waren. Die Dinger sieht man ja überhaupt nicht, maulte Sven Sommer und merkte kurz darauf, daß er vergessen hatte, das Licht einzuschalten. Vor einigen Wochen war er in einem anderen Parkhaus gewesen. Dort hingen gut sichtbare rot-weiß gestreifte Stäbe als Markierung von der Decke. Die Stäbe waren mit Schaumstoff ummantelt, damit die Fahrzeuge der Kunden nicht beschädigt wurden. Er mochte nicht daran denken, was bei einer Kollision mit den Betonpollern passieren würde.

Unmittelbar vor ihm schoß ein Wagen urplötzlich quer auf die Fahrbahn. Sven Sommer bremste erschrocken. Inmitten der parkenden Autos befand sich eine Durchfahrt, natürlich nicht markiert, wie für einen Unfall angelegt. Sven Sommer war bereits zu frustriert, um sich jetzt noch aufzuregen. Er steuerte seinen Wagen in eine Parklücke und stieg aus.

Da stand er nun und blickte sich suchend um. Wo war der Ausgang? Das Geräusch von klickenden Absätzen erregte seine Aufmerksamkeit. Eine junge Frau kam auf ihn zu. Sie erschien ihm überaus wohlproportioniert und ihre Kleidung sollte wohl hauptsächlich dem Zweck dienen, diesen Eindruck zu unterstreichen. Ihre Schritte waren schnell und hektisch, als ob sie vor etwas davonliefe.

Entschuldigen Sie bitte, wissen Sie, wo der Ausgang ist? Die junge Frau schaute ihn unsicher an. Ihre Augen waren dunkel geschminkt, wodurch sie noch verängstigter wirkte, als sie es ohnehin schon war.

Nein, den suche ich auch gerade. Sven Sommer wunderte sich, daß sich die junge Frau an ihn wandte. Schließlich war er ein Mann in einem schlecht beleuchteten Parkhaus. Zugegeben, er war von stattlicher Statur und gewiß kein schlechter Fang, aber trotzdem. Oder lag es vielleicht an seinem Anzug und seiner Krawatte, den Signalen für Wohlstand und Kompetenz? Er hatte schon des öfteren festgestellt, daß er im Anzug anziehender auf Frauen wirkte als in Freizeitkleidung, ein Grund dafür, daß er Anzüge bevorzugte.

Sven Sommer hatte wohl etwas zu lange gezögert. Die junge Frau wendete sich von ihm ab. Lassen Sie uns in diese Richtung schauen, schlug er gerade noch rechtzeitig vor. So eine Gelegenheit durfte man sich nicht entgehen lassen. Wer weiß, was daraus werden konnte?

Normalerweise fahre ich nicht in Parkhäuser, aber ich bin zum ersten Mal in dieser Stadt, und dann habe ich keinen Parkplatz gefunden.

Mir geht es genauso, sagte Sven Sommer und lachte. Die junge Frau lachte mit. Er wertete das als gutes Zeichen.

Hoffentlich komme ich nicht zu spät. Ich habe heute den ersten Arbeitstag auf meiner neuen Stelle und Sie wissen ja: Der erste Eindruck zählt. Ausgerechnet heute kommt irgend so ein hohes Tier.

Sehen Sie, dort ist schon der Ausgang. Sie kommen bestimmt nicht zu spät. Er legte seinen gesamten Charme in seine Stimme. Gemeinsam näherten sie sich einer Tür mit dem großen Schriftzug Ausgang. Sie war verschlossen! Die junge Frau blickte ihn mit geweiteten Pupillen an. Sven Sommer schaute fassungslos auf die Tür. Erst jetzt entdeckte er einen kleinen Pfeil, der nach rechts zeigte. Diese Tür war kein Ausgang. Die Aufschrift Ausgang war nur ein Hinweis (Abbildung 13). Ärger stieg in ihm hoch. Die Erbauer des Parkhauses wollten ihre Kunden offensichtlich für dumm verkaufen.


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Abbildung 13: Sven Sommer und die junge Frau befinden sich in folgender Situation: Die Aufschrift an der linken Tür ist nur ein Hinweis. Die Tür selbst ist jedoch kein Ausgang.


Mit entschlossenen Schritten eilte Sven Sommer in Richtung des Pfeils, und tatsächlich, schon nach wenigen Metern stand er vor einer weiteren Tür. Ausgang, stand darauf. Die junge Frau war ihm mit langsamen Schritten gefolgt, ihr Gesicht war ausdruckslos. Wahrscheinlich malte sie sich gerade aus, wie ihr erster Arbeitstag zur Katastrophe wurde. Es kann schon deprimierend sein, wenn man an einfachen alltäglichen Aufgaben scheitert.

Bitte sehr. Er hielt ihr die Tür auf.

Danke, sage sie leise und trat in das Treppenhaus. Sven Sommer folgte ihr. Das Treppenhaus war so eng, daß er hinter ihr gehen mußte, aber das war eine Situation, die er durchaus genoß. Schließlich boten die nackten Betonwände keinen besonders reizvollen Anblick.

Geschafft. Sven Sommer trat ins Freie.

Ich komme zu spät! Vielen Dank für Ihre Hilfe! Die junge Frau eilte hastig davon.

Er schaute auf seine Uhr. Trotz allem war er zu früh. Sein Blick verfolgte unschlüssig die davoneilende junge Frau. Gerne hätte er sie noch auf einen Kaffee eingeladen, bezweifelte aber, ob sie eine so interessante Gesprächspartnerin gewesen wäre wie Mira Kell. Mira Kell, das war eine gute Idee. Er könnte sie anrufen, um die Zeit zu überbrücken. Ihre Visitenkarte befand sich noch in seiner Tasche. Sven Sommer wählte ihre Nummer.

Guten Morgen, hier spricht Mira Kell, klang es aus dem Handy.

Sommer.

Herr Omma?

Nein Sommer, Sven Sommer, wir haben uns heute morgen im Zug kennengelernt.

Herr Sommer. Ich freue mich über Ihren Anruf. Was kann ich für Sie tun?

Ich habe über diese Usability-Sache nachgedacht und würde gerne noch einmal mit Ihnen darüber sprechen. Vielleicht könnten Sie auch meine Firma unterstützen? Er beglückwünschte sich. Da er mit einem Auftrag gewedelt hatte, mußte sie das Gespräch fortführen.

Aber selbstverständlich! Wir können gleich einen Termin vereinbaren.

Äh, ich komme gerade nicht an meinen Terminkalender. Könnten wir vorab einige Worte miteinander wechseln?

Ich habe im Moment nicht sehr viel Zeit. Sie haben Glück, daß gerade Pause ist und Sie mich überhaupt erreicht haben.

Ich gehe immer an mein Handy. Er versuchte, etwas von seiner Wichtigkeit und ständiger Bereitschaft in seine Stimme zu legen.

Wenn Sie in einer Besprechung mit 10 Personen säßen, würden Sie an Ihr Handy gehen?

Aber ja, es könnte doch wichtig sein.

Sie würden 10 Menschen warten lassen und eine Besprechung verzögern, nur um ein Telefonat entgegenzunehmen?

Sven Sommer hatte es geahnt. Sie fing wieder an, auf ihm herumzuhacken. Wahrscheinlich machte ihr das Spaß. Und das Schlimmste war: Sie hatte recht. Er ließ 10 Menschen warten, nur um einen einzigen Anrufer nicht warten zu lassen. Darüber hatte er noch nie bewußt nachgedacht.

Wenn einer Ihrer Angestellten mitten in eine Besprechung platzt und Ihnen sagt, daß er mit Ihnen reden möchte, was würden Sie tun?

Das wäre grob unhöflich und das würde ich dem Kerl schon klarmachen.

Aber Anrufen darf er Sie?

Hören Sie auf, ich habe schon verstanden. Wahrscheinlich werden Sie mir gleich erklären, daß Telefonieren auch etwas mit Usability zu tun hat.

Genau. Sie habens erraten. Mira Kell lachte. Sie haben vorhin den Grundsatz der Transparenz verletzt.

Ich? Wann?

Als Sie sich am Telefon gemeldet haben. Sie haben nur Ihren Nachnamen genannt, so wie viele Leute, aber Menschen benötigen einen kurzen Moment, um sich auf die Stimme am anderen Ende einzustellen. Deswegen ist es besser, ein paar Worte vor dem Namen zu sagen und sich mit vollem Namen zu melden. Dadurch kann sich Ihr Gesprächspartner auf Ihre Stimme einstellen und sicher sein, daß Sie es sind.

Zumindest melde ich mich nicht mit „Hallo“.

Richtig, das sind die Schlimmsten.

Das Gespräch begann, ihm Spaß zu machen. Er erzählte ihr von der roten Ampel vor dem Parkhaus, die er übersehen hatte.

Da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Das ist normal.

Es ist normal, eine rote Ampel zu übersehen?

Bei manchen Männern schon, aber so meinte ich das nicht. Wenn Menschen sich auf etwas konzentrieren, läßt ihre Aufmerksamkeit für andere Dinge nach. Dann übersehen sie sogar einen Gorilla, der vor ihren Augen umherspaziert. [18]

Sie scherzen?

Keineswegs. Nicht alles, was Ihre Augen sehen, erreicht auch Ihr Bewußtsein.

Wenn mir also jemand die Vorfahrt nimmt, kann es sein, daß er mich überhaupt nicht wahrgenommen hat, obwohl ich einen so großen Wagen fahre?

Das ist durchaus möglich. Vielleicht war der andere Fahrer abgelenkt. Aber gerade deshalb ist die sprichwörtliche Aufmerksamkeit im Straßenverkehr so wichtig. Böse Absicht ist seltener als Viele glauben.

Aber manche Dinge sind auch dann nicht zu sehen, wenn man sie sucht. Sven Sommer erzählte die Geschichte mit dem Parkhausausgang und der jungen Frau, wobei er seine Rolle etwas in Richtung Retter in der Not ausschmückte.

Sie sind ja ein echter Held, erklang es ironisch von der anderen Seite. Die Kennzeichnung vieler Parkhäuser ist allerdings tatsächlich miserabel. Dabei wäre es so einfach. Die Ausgänge müßten farblich von der Umgebung abgehoben werden. Kleine Linien mit Pfeilen oder aufgemalte Fußstapfen könnten den Kunden zusätzlich führen (Abbildung 14). Wußten Sie, daß es in Hannover eine rote Linie gibt, die Touristen durch die Innenstadt führt?


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Abbildung 14: Ein Kunde im Parkhaus sucht den richtigen Ausgang. Eine von Mira Kells vorgeschlagenen Lösungen. Die Ausgangstür hebt sich farblich von der Umgebung ab. Die Beschriftung ist schwarz auf weiß, um einen möglichst guten Kontrast zu erreichen. Kleine Pfeile auf dem Boden führen den Besucher zur Tür.


Sie meinen sicher den Red-Line-District? scherzte er.

Ein nettes Wortspiel, aber jetzt habe ich wirklich keine Zeit mehr. Ich muß zurück in die Besprechung. Wir können uns später noch einmal unterhalten. Alles Gute bei Ihrem Termin!

Sven Sommer verabschiedete sich. Seine Laune hatte sich merklich aufgehellt. Er war bereit, neuen Hindernissen entgegenzutreten.