3 Bahnhof

Sven Sommer hastete in den kleinen Bahnhof und schoß auf den Fahrkartenschalter zu. Geschlossen! Irritiert blickte er sich um. Wo war der Fahrkartenautomat? Nichts zu sehen! Betont gelassen schlenderte er durch die kleine Halle und warf verstohlene Blicke in die Ecken. Irgendwo mußte doch ein Automat sein!

Nichts! Sven Sommer begann zu verzweifeln. Andere Leute fuhren doch auch mit der Bahn! Und er sollte schon am Kartenkauf scheitern? Er, der Geschäftsführer, der 500 Leute unter sich hatte? Er sah sich nochmals um; niemand, den er fragen könnte. Nur ein paar Jugendliche lungerten auf einer Bank herum und sogen gelangweilt an ihren Zigaretten. Beobachteten sie ihn etwa? Spürten sie seine Hilflosigkeit? Er beschloß, in die Offensive zu gehen. Mit mehreren dynamischen Schritten trat er an die Jugendlichen heran. Wo kann ich hier eine Fahrkarte bekommen? hörte er sich sagen. Es klang seltsam belegt.

Der Angesprochene bewegte sich nicht. Eine Kapuze bedeckte sein halbes Gesicht. Draußen an der Seite ist ein Automat. Sven Sommer stutzte. Wollten sie ihn auf den Arm nehmen? Wahrscheinlich wurden sie nicht oft von einem Anzugträger angesprochen, noch dazu von einem mit einer geschmackvollen Krawatte. Und überhaupt, wer hatte gesprochen? Die Stimme hatte hell und klar geklungen, überhaupt nicht nach Zigarette. Sein Blick sprang in Richtung Stimme, ein Mädchen, bauchnabelfrei. Sie lächelte ihn an. Er fühlte sich unwohl, sein Blick sprang in Richtung Bauchnabel. Ihr Top war eng, sehr eng. Er hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Danke, murmelte er seltsam kehlig und ging langsam Richtung Ausgang.

Sie hatten ihn veralbert, soviel war klar. Schließlich würde niemand einen Automaten dort aufstellen, wo man ihn nicht findet. Sven Sommer konnte es nicht fassen. Vor dem Gebäude zückte er sein Handy und rief die Werkstatt an. Es sollte nicht so aussehen, als ob er auf die Jugendlichen hereingefallen wäre.

Der Wagen, den Sie mir gegeben haben, springt nicht an! herrschte er die Stimme am Telefon an. Eine männliche Stimme. Sven Sommer fühlte sich wieder sicher.

Haben Sie den Rückwärtsgang eingelegt? klang es zurück. Der Zündschlüssel läßt sich nur umdrehen, wenn der Rückwärtsgang eingelegt ist.

Sven Sommer erstarrte. Stimmt, irgend etwas hatten sie ihm in der Werkstatt gesagt, aber er hatte es vergessen. Danke, sagte er und legte auf.

Inzwischen hatte er die Ecke des Gebäudes erreicht und da standen sie, zwei Automaten, ein roter und ein blauer. Die Bauchnabelfreie hatte nicht gelogen, sondern eine völlig korrekte Auskunft erteilt.

Sven Sommer gewann mit jedem Schritt an Selbstsicherheit. Herrjeh! Warum zwei Automaten? Welcher ist wofür? Er mußte eine Entscheidung treffen. Der rote Automat war besetzt. Also stellte er sich vor den blauen. Der blaue Automat war defekt, jedenfalls sah es auf den ersten Blick so aus, denn er besaß einen Bildschirm, auf dem absolut nichts zu sehen war. Sven Sommer trat näher heran, um zumindest rudimentäre Informationen zu sammeln. Was war das? Jetzt war etwas zu erkennen. Mit Mühe ließen sich einige Schaltknöpfe auf dem Bildschirm identifizieren. Die Sonne! Die Sonne scheint direkt auf den Bildschirm. Welcher Idiot würde einen Automaten direkt in die Sonne stellen? Er spürte Ärger in sich hochsteigen und beugte sich näher an den Bildschirm, wobei er versuchte, ihn mit den Händen zu beschatten. Jetzt war der sichtbare Ausschnitt zu klein. Ich mache mich hier lächerlich. Der Gedanke kam unvermittelt. Vorsichtig blickte er sich um, niemand lachte, er war allein. Der rote Automat war frei!

Ein paar schnelle Schritte seitwärts und er stand vor dem roten Automaten. Kein Bildschirm! Das würde die Sache vereinfachen. Bitte passend zahlen, stand da geschrieben. Egal, erst einmal verstehen, wie der Hase läuft. Sven Sommer untersuchte den Automaten mit schnellen Blicken: Geldeinwurf, numerische Tastatur, viele Knöpfe, Display, Städtenamen, Tarifzonen, kurz: ein Rätsel. Seine Blicke erlahmten, Panik stieg in ihm hoch, er zwang sich zur Ruhe und atmete tief durch.

Kann ich Ihnen helfen?

Er zuckte zusammen. Ertappt! Mit gespielter Lässigkeit drehte er sich um. Die Bauchnabelfreie! Sein Blick zuckte in Richtung Bauchnabel, blieb kurz an ihrem Ausschnitt hängen und bewegte sich, gesteuert durch einen Akt der Willenskraft, wieder nach oben. Wenigstens schoß ihm das Blut nicht in’s Gesicht. Äh, sagte Sven Sommer.

Ich brauche eine Karte nach Schrägberg. Der Satz kam ihm glatt über die Lippen. Er mußte sich jetzt auf das Wesentliche konzentrieren.

Aber das ist doch ganz einfach, wunderte sich die Bauchnabelfreie. Bemitleidete sie ihn etwa? Hielt sie ihn für etwas zurückgeblieben?

Sie müssen nur Tarifzone 3 eingeben. Ihre Finger huschten über die Tastatur. Er konnte ihr nicht folgen. 3Euro, erschien auf dem Display. Er kramte in seinem Portemonnaie. Glück gehabt! Er hatte den Betrag passend. Wenigstens hatte er den Geldeinwurfschlitz erkannt. Nach kurzer Wartezeit öffneten ihre Finger eine kleine Klappe und kamen mit einer Fahrkarte wieder hervor.

Danke, sagte Sven Sommer.

Was für ein peinlicher Auftritt, Hilfestellung von einem bauchnabelfreien Teenager. Sven, Du bist mir ein schöner Manager. Er trollte sich verunsichert Richtung Bahnsteig, warf einen kurzen Blick zurück. Sie stand vor dem Automaten und würdigte ihn keines Blickes. Schade, dachte Sven Sommer.

Der kleine Bahnhof besaß nur einen Bahnsteig. Das erleichterte die Sache ungemein. Gelassen schritt er Richtung Fahrplan. Davor stand eine Bank, auf der einige ältere Damen saßen. Wenn er den Fahrplan lesen wollte, mußte er die Damen von der Bank verscheuchen. Das war ihm peinlich. Er blickte sich um. Auf dem Bahnhof standen viele Menschen. Wahrscheinlich kam gleich ein Zug. Er beschloß, zu warten und beschäftigte sich mit seiner Fahrkarte. Nur mit Entwerteraufdruck gültig, stand auf der Karte. Wieder ein suchender Blick, kein Entwerter auf dem Bahnsteig. Also mußte er sich im Zug befinden. Das war eine klare logische Schlußfolgerung. Sven Sommer war stolz auf sich. Mit ein bißchen Intelligenz kommt man doch überall zurecht.

Abermals sah er sich um. An der Wand des Bahnhofsgebäudes entdeckte er eine Art Karte. Er trat näher heran. Übersichtlich wie die Schnittmusterbögen meiner Mutter, schmunzelte er. Er betrachtete die Karte genauer. Es handelte sich um einen Streckenplan der Verkehrsgesellschaft, ein Wabenmuster, das von zahlreichen Linien durchzogen wurde. An den Linien standen in unregelmäßigen Abständen Bezeichnungen in kleiner Schrift. Sven Sommer konnte sie nicht lesen. Seine Lesebrille befand sich irgendwo in den Tiefen seiner Aktentasche.

Ein lautes Quietschen schreckte ihn aus seinen Gedanken. Der Zug fuhr ein. Autos sind nicht so laut beim Bremsen, wunderte er sich. Sven Sommer schloß sich den anderen Fahrgästen an und betrat die Bahn. Auf den ersten Blick sah er den Entwerterautomaten. Das ist jetzt einfach. Schließlich müssen jeden Tag hunderte von Passagieren ihre Karten abstempeln. Er schob die Karte in den Automaten: nichts passierte. Er zog die Karte heraus und betrachtete sie verwundert: nichts. Er schob die Karte wieder in den Automaten, diesesmal so weit wie möglich: wieder nichts.

Hier ist noch ein Automat, hörte er hinter sich.

Er dreht sich um. Richtig! Wie konnte er nur so dumm sein? Er hatte versucht, seine Karte im blauen Automaten abzustempeln, dabei hatte er sie doch aus einem roten Automaten. Also war es nur logisch, den roten Entwerter zu benutzen. Der rote Entwerter funktionierte einwandfrei. Während der Fahrt behielt er die Automaten im Auge. Befriedigt stellte er fest, daß sein Mißgeschick auch vielen anderen Fahrgästen passierte.

Der Rest der kleinen Fahrt verlief ereignislos. Aber er mußte noch nach Tiefental. Glücklicherweise gab es in Schrägberg Fahrkartenschalter, so richtig mit Beratung, mit Menschen. Das würde die Sache vereinfachen.

In der Kartenhalle, ReiseZentrum stand davor in großen Buchstaben marketingtypisch falsch geschrieben, befanden sich mehrere Fahrkartenschalter. Vor jedem stand eine lange Schlange. Zwischen den Schlangen huschten in unregelmäßigen Zeitabständen Menschen hin und her, offenbar auf der Suche nach der schnellsten Schlange. Sven Sommer stellte sich hinten an eine Schlange.

Warum benutzen die hier kein amerikanisches Wartesystem? fragte er sich. Er wußte, daß es in Amerika eine Warteschlange für mehrere Schalter gab. Auf diese Weise standen Leute, die zuerst kamen, auch weiter vorne in der Schlange. Wer zuerst kommt, malt zuerst. Die Amerikaner nehmen Service richtig ernst. Dort läßt man Kunden nicht so lange warten. Er stutzte. Seine Konkurrenz kam auch aus Amerika.

In der Schlange ging es schnell voran. Sven Sommer triumphierte: Es geht doch nichts über den richtigen Instinkt. Nur noch eine Person vor ihm. Aber warum dauerte das jetzt so lange? Er lauschte. Frühbucherrabatt, Spar-Night, Last Minute?, Personen mitnehmen, Ein schneller Blick in die Runde. War der Mantelträger in der Nebenschlange nicht nach ihm gekommen? Jetzt stand er auf gleicher Höhe. Hinfahrt über Biesheim, Rückfahrt über, Bahn-Card, Der Mantelträger hatte den Schalter erreicht. Sven Sommer verlagerte sein Gewicht ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Bahn-Card 25, Rail-Plus, Hopper-Ticket, Sven Sommer schaute hinter sich. Böse Blicke, ungeduldige Blicke, gelangweilte Blicke. Einfache Fahrt, Rückfahrkarte, Sitzplatzreservierung Der Mantelträger am anderen Schalter war fertig. Nichtraucher, kein Abteil, Bordrestaurant Nervosität, Streß, Adrenalin, Aggression!

Der Mann vor ihm war fertig. Sven Sommer stürzte an den Schalter.

Eine Karte nach Tiefental, schnell bitte! Es klang seltsam abgehackt.

Mit welchem Zug möchten Sie fahren? Die ältere Dame am Schalter blickte ihn gelangweilt an. Ihre Arbeit schien ihr keine besondere Freude zu bereiten.

Mit welchem Zug? wiederholte Sven Sommer etwas ratlos.

Aber ja, die Miene der Dame hellte sich auf. Sie freute sich, wenn sie ihr umfangreiches Wissen an einen Kunden weitergeben konnte. Wir haben verschiedene Zugtypen. Zwischen hier und Tiefental verkehren Regionalbahn, Regionalexpress, D-Zug, Interregio, Intercity, Intercity-Express, sogar der Intercity-Night. Sie haben die freie Wahl. Wir sind ein modernes Unternehmen mit einer breiten Auswahl an Angeboten. Damit können wir unsere Dienstleistung individuell an jeden Kunden anpassen und somit optimalen Service gewährleisten. Die Augen der Damen ließen aufkommenden Stolz erkennen.

Die letzten Sätze kamen Sven Sommer seltsam bekannt vor. War das nicht neulich auf diesem überteuerten Manager-Seminar? Irritiert drehte er sich kurz um. Hinter ihm eine Schlange. Nervosität, Streß, Adrenalin, Aggression!

Irre, kam es au seinem Mund.

IRE? Inter-Regio-Express? vergewisserte sich die Dame.

Nein, die schnellste Verbindung bitte, hörte er sich sagen. Er spürte stechende Blicke an seinem Hinterkopf. Einfache Fahrt, und bitte beeilen sie sich. Der Preis spielt keine Rolle, ergänzte er hastig. Die Dame blickte indigniert, aber sie schien zu begreifen. Mit schnellen Anschlägen bearbeitete sie ihre Tastatur. Nach kurzer Zeit überreichte sie ihm einen kleinen Umschlag.

Gute Fahrt, wünschte sie.

Wo muß ich abstempeln? fragte Sven Sommer. Die Dame schaute ihn fragend an.

Danke, sagte er und flüchtete aus dem Reisezentrum.

Er untersuchte den Inhalt des kleinen Umschlags. Er enthielt eine Fahrkarte, eine Sitzplatzreservierung und sogar einen kleinen Reiseplan mit der Abfahrtszeit. Noch eine halbe Stunde Zeit. Genug für die Toilette. Etwas Erleichterung würde ihm guttun.

Der Weg zur Toilette war versperrt. Zwei Drehkreuze bewachten den Weg. 50 Cent, las Sven Sommer. Er kramte in seinem Portemonnaie. Glück gehabt, dachte er als ein 50-Cent-Stück zwischen seinen Fingern erschien. Ein Wechselgeldautomat funkelte ihn aus roten Leuchtdioden bösartig an. Dieses Opfer war ihm entwischt, aber der Automat hatte Zeit und wartete geduldig in seiner dunklen Ecke.

Sven Sommer durchschritt ein Drehkreuz. Im anderen hatte sich ein Passagier mit einem Koffer verfangen. Wie kann man nur so dämlich sein? dachte Sven Sommer und trat vor das Urinal. [5]

Zu kurz! Siedendheiß durchfuhr es ihn. Das Urinal war aus Edelstahl. Im Gegensatz zu anderen Modellen schmiegte es sich nicht in den Schritt, sondern besaß vorne eine breite gerade Kante. Die Kante war zudem nach außen abgeschrägt, so daß fehlgeleitete Flüssigkeit auf den Boden abtropfte. Sven Sommer blickte um sich. Vor den anderen Urinalen befanden sich kleine Pfützen. Er empfand eine Mischung aus Abscheu und Erleichterung. Er war nicht allein mit seinem Problem.

Vielleicht ging es schräg von der Seite besser. Er machte einen kleinen Schritt und stellte sich im 45-Grad-Winkel vor das Urinal. Nein, das ging auch nicht. Also wieder zurück. Er streckte die Hüfte so weit wie möglich nach vorne, darauf bedacht, mit der Hose nicht die feuchte Kante zu berühren, und lehnte sich mit dem Oberkörper weit zurück, um die Balance zu halten. Besser geht es nicht, resignierte er.

Pscht, machte es, als er die Spülung betätigte, Pscht. Warum hörte das nicht wieder auf? Leichte Panik überkam ihn. Pscht. Er ruckelte am Druckknopf. Der Wasserfluß ließ langsam nach.

Erleichtert ging er zum Waschbecken und drückte auf den Knopf. Nichts passierte. Er drückte noch einmal. Wieder nichts. Ein neuer Versuch. Diesesmal drehte er am Knopf. Das Wasser kam. Blödes Ding, dachte er, während er sich die Hände wusch.

Danach hielt er seine Hände unter den elektrischen Trockner: Stille. Er inspizierte den Trockner: kein Knopf zu entdecken. Er begann, mit seinen nassen Händen unter dem Trockner zu kreisen. Üüüüü, kam es laut aus dem Gerät. Ein Schwall warmer Luft schoß an seinen Händen vorbei. Er zog seine Hände in Richtung Luftstrom: Stille. Der Trockner war aus. Sven Sommer gab entnervt auf.

Das nächste Ziel war der Bahnsteig. Sven Sommer studierte seine Reservierung, Wagen 267. War der Zug so lang oder begann die Numerierung nicht bei Eins? Hastige Blicke über den Bahnsteig. Kein Hinweis auf die Wagennummer. Große Buchstaben drängten sich in’s Blickfeld. Der Bahnsteig war in Abschnitte unterteilt. Sven Sommer flanierte mit gespielter Souveränität über den Bahnsteig, entschlossen dieses Rätsel zu lösen. Er hatte noch Zeit.

Endlich eine Tafel. Darauf in großen Buchstaben: Wagenstandsanzeiger. Das mußte es sein. Die Tafel enthielt eine Zuordnung der Wagennummern zu den Buchstaben auf dem Bahnsteig. Sven Sommer hatte das Rätsel gelöst. Zufrieden schlenderte er zu seinem Bahnsteigabschnitt. Ich hätte den Abschnitt auf die Reservierung gedruckt, dachte er sich.

Der Zug fuhr ein. Sven Sommer suchte die Wagennumerierung, konnte sie jedoch nicht entdecken. Automatisch strebte er Richtung Wagontür. Wo war nur die Numerierung? Jetzt entdeckte er sie, weit von der Tür entfernt. Auf dem Bahnsteig begann hektischer Betrieb. Der Zug hatte nicht in den vorgesehenen Abschnitten gehalten. Sven Sommer schloß sich dem Strom der Fahrgäste an.